Montag, 26. September 2011

Mein aktueller Gesundheitszustand, September 2011


 Das Blöde mit den Antidepressiva ist, dass sie erst nach mehreren Wochen anfangen zu wirken. Zumindest die, die für mich in Frage kämen, also selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Grob zusammengefasst muss sich dabei das Hirn um die Herstellung seines Serotonins (das im Hirn einen gewissen Beitrag bei der chemischen Herstellung von Glück leistet) weiterhin schon selber kümmern, nur kursiert es länger im Hirn und kann sich nicht so schnell wieder aus dem Staub machen. Also eine einigermaßen durchschaubare Sache und kein Hexenwerk. Vor Jahren hatte ich damit eine Episode von ein paar Monaten, die ich in keiner schlechten Erinnerung habe. Trotzdem sage ich, dass ich zum Glück - und nicht leider - das Mittel damals bei einer längeren Reise zu Hause vergessen hatte und dadurch merkte, dass ich es gar nicht mehr brauchte. Jetzt frage ich mich seit Wochen, ob es an der Zeit wäre, wieder damit anzufangen. Oder ob ich aus meinem Loch, auf dessen Boden ich zurzeit hocke, mit eigenen Kräften herauskomme. Das einzige, was ich durch ein Antidepressivum zu verlieren hätte, wäre ein Bruchteil meiner Emotionen: Statt „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ gäbe es dann „mittelhoch jauchzend, recht betrübt“. Das wäre aber kein geringer Preis, wenn man alles, was das Leben noch zu bieten hat, bedingungslos mitnehmen will. In guten wie in schlechten Zeiten.

Vermutlich zögere ich die Entscheidung so lange hinaus, bis ich tatsächlich selbständig aus dem Loch rausgekrochen bin. Ich bin eigentlich schon dabei, die Wände sind allerdings etwas bröckelig, es mag noch dauern, bis der Halt so fest wird, dass ich mich mit einem großen Satz richtig rausschwingen kann. Wenn man ein Leben am Abgrund führt und immer wieder dort hineinschielt, um sich zu vergewissern, dass man mit der Bedrohung, die dort wohnt, einigermaßen zurecht kommt, ist es wohl nicht ungewöhnlich, dass man ab und zu tatsächlich hineinrutscht, hineingezogen durch das bloße Hineinschauen.

Das Irritierende bei der Sache ist allerdings, dass meine wirklich heftigen Stimmungstiefs selten länger als drei-vier Tage anhielten, danach wurde es mir zu langweilig. Diesmal bin ich zwar meistens nicht ganz unten, aber ziemlich weit unten. Wiederum nicht weit genug, um täglich zu weinen (so wie vor vier Wochen habe ich allerdings seit Jahren nicht geweint, zumindest nicht am Stück). Aber wiederum weit genug, um doch wenig heitere Gedanken und keinerlei Antrieb zu besitzen, von wenigen Tagen zwischendurch mal abgesehen. (Die mir jedes Mal zu der irrigen Annahme führen, ich wäre jetzt raus aus dem Loch.) Und das, wo mir meine Lebenszeit doch so teuer ist! Der Auslöser für den Absturz war der Besuch in Buchenwald, an diesem Tag ging es los. Die Ursache liegt vermutlich woanders, von denen gäbe es natürlich auch genug, zumindest objektiv betrachtet (was ein Widerspruch in sich ist, denn objektive Betrachtung gibt es nicht). Vielleicht ist es einfach nicht normal, so glücklich zu sein, so froh über sein Leben, wie ich es in den letzten Jahren meist war, und die Psyche verlangt Ausgleich „nach Norm“. Ich war dabei sicher kein Verdränger, mein Frohsinn stammte direkt aus der Dankbarkeit, überhaupt am Leben zu sein. Aber am Leben zu sein bedeutet ja auch mal unten zu sein. Ein Dilemma, das mein Körper vielleicht ohne mich gelöst hat.

Zu den handfesteren, leichter zu vermittelnden Ursachen. Ich hänge seit Wochen in der Luft, was eine neuerliche OP betrifft. Die letzte ist mir noch allzu gut in Erinnerung, das heißt eigentlich: allzu schlecht. Richtig auf die Beine gekommen bin ich seitdem nicht, die Regeneration hat noch nie so lange gedauert. Vor einigen Tagen begann ich sogar wieder Morphin zu nehmen, weil die Schmerzen offensichtlich doch keine Restzuckungen der Rekonvaleszenzphase sind. Ich schließe nicht aus, dass das Morphin bei mir die Niedergeschlagenheit verstärkt, ich bin nämlich nach der letzten OP, als ich zeitweise über 100 mg täglich einnahm, ebenfalls mehrmals beim Erwachen in Tränen ausgebrochen – sehr ungewöhnlich für mich, um nicht zu sagen: ein Novum. Eventuell sollte ich doch ein anderes Opiat ausprobieren, ich thematisiere das mal beim nächsten Arzttermin. Dass der Schmerz die Lebergefilde verlassen und höher gekrochen ist, mag von der unbewussten Schonhaltung bedingt sein. Von Lungenmetastasen war vor einem Monat im Röntgen jedenfalls nichts zu sehen. Eventuell sind es Verwachsungen, Vernarbungen oder Ähnliches, oder einfach das sogenannte Schmerzgedächtnis – mit der Quelle an der OP-Stelle -, dessen subtile Macht ich immer wieder beteuere. Oder es kommt davon, dass ich beim Kubbspiel letztens einen so guten Wurf machte, dass Martin mich vor Freude über die Schulter stemmte und kopfüberhängend mit mir herumtanzte. Ein Miniriss vielleicht, sozusagen. (Ja, es kann ein Segen und ein Fluch sein, wenn Menschen vergessen, wie krank ich eigentlich bin. Erinnert mich an eine Hochzeit, bei der mich Andreas freudestrahlend auf die Tanzfläche zerrte und mit mir eine wilde Polka hinlegte, von der ich mich während der restlichen Hochzeit erst langsam erholte. Aber was tut man nicht alles, um anderen nicht die Freude zu nehmen, insbesondere wenn man so überrumpelt ist, dass man gar nicht schnell genug schaltet, um sich zu retten. Oder wenn es zu laut ist, um sich deutlich zu machen.)

Zwar esse ich momentan wie ein Scheunendrescher (ein kleines bis mittelgroßes Modell) und bekomme meine Hosen, die ich mir in klapperdünnen Zeiten zugelegt habe, nicht mehr richtig zu. Mit der Ungewissheit im Großen muss ich mich schon lange herumschlagen, erfreulich lange. Aber die Ungewissheit im Kleinen schafft mich gerade. Dabei ist es gar keine Ungewissheit: Die Metastasen müssen mit dieser Hochfrequenzmethode noch mal angegangen werden, auch wenn das Risiko, dass die Gallenblase platzt, groß ist (nicht, weil der operierende Arzt nicht treffen würde - der ist, glaube ich, richtig gut in seinem Fach und genießt mein absolutes Vertrauen -, sondern wegen der Hitze). Alle anderen Methoden seien dasselbe in Grün, wenn nicht noch gefährlicher. Jetzt warte ich auf die nächsten Tumormarker, wenn die gestiegen sind, bin ich dran. (Mein Arzt, der die OP so nah an der Gallenblase anfangs für zu gefährlich hielt, sagte, nachdem er die CT-Bilder vom Krankenhaus bekam, dass es doch etwas schlechter aussieht als er gedacht hatte, weil er im Ultraschall diese Ecke immer ganz schlecht sehen konnte. Und dass er die OP deshalb befürworten muss.) Wenn nicht, habe ich noch Aufschub. Und vielleicht hilft ja vorher noch Afinitor, von dem ich nun die doppelte Menge nehme.

Weil ich manchmal gefragt werde, welche Therapie ich aktuell bekomme, in diesem Zuge gleich die gesamte Auskunft: Wie seit vielen Jahren schon, bekomme ich alle drei Wochen Herceptin; wenn die Leberwerte es zulassen, dann seit ca. einem halben Jahr auch Gemzar (meistens stürzen sie dadurch aber in den Keller, so dass die erwünschte Frequenz so gut wie nie eingehalten werden kann); diese beiden bekomme ich als Infusion. Subjektiv kann ich dabei keinerlei Nebenwirkungen feststellen. Seit Herbst 2008 nehme ich täglich Tyverb, mit der einzigen Nebenwirkung von Durchfällen, die mit Imodium gut in Griff zu halten sind. (Zudem ist eine starke Verstopfung unvergleichlich unangenehmer als ein starker Durchfall.) Im Herbst 2008 sah es mit mir so schlecht aus, dass ich dem Tod in ein paar Monaten entgegensah. Und auch wenn ich nicht so gerne mit Superlativen um mich schmeiße, möchte ich es hier fast tun. Damals brachte dieses Mittel jedenfalls die Wende, innerhalb eines Monats waren die Metastasen fast verschwunden. Auch umgekehrt ist das Tempo bei mir allerdings alles andere als gemächlich: Wenn die Metastasen wiederkommen, dann wie ein Tsunami. Die Teilungsfreude meiner Krebszellen ist nämlich ungemein, ich bin ja auch u.a. dreifach HER2/neu-positiv.

Leider hat Tyverb mittlerweile die Wirkung verloren, es ist aber deshalb noch lange nicht ratsam, es abzusetzen, genauso wenig wie man Herceptin absetzen sollte. Die Rezeptoren, die diese blockieren sollen, sind ja weiterhin da. Nur nehme ich momentan von Tyverbtabletten statt fünf nur vier Stück (1000 mg), um dem Organismus nicht zu sehr zuzusetzen. Und als viertes Mittel nehme ich täglich 10 mg Afinitor, das zwar nur für das Nierenkarzinom zugelassen ist, aber in solchen weitgehend austherapierten Fällen wie der meine darf man das ausprobieren. Der Erfolg war zumindest einige Monate lang da, mal sehen, was die höhere Dosis nun macht. Der befürchtete Husten als Nebenwirkung, der schnell zu einer Lungenentzündung übergehen kann, ist bislang, toi, toi, toi, ausgeblieben. (Haa, daher aber vielleicht meine Atembeschwerden! Das Naheliegende habe ich links liegen gelassen, war wohl zu nah.) Vor ein paar Wochen waren die Tumormarker ungefähr gleich geblieben, was man ebenfalls als Erfolg bezeichnen kann. Auch wenn ich ehrlich gesagt durch die Entfernung von so viel Tumorgewebe in der Leber mit einem deutlichen Sinken von Tumormarkern gerechnet hatte.

Einen so sachlich-negativen Blogbeitrag über meine Gesundheit habe ich wohl noch nie geschrieben. Sei’s drum, so ist nun mal die aktuelle Lage. Morgen fliegen Steffen und ich jedenfalls nach Barcelona, um meine ganz alten Freunde aus Aachener Zeit, Mona und Olivier zu besuchen, die jetzt in Sitges leben, direkt am Meer. Ich freue mich so sehr auf die beiden und die andere Umgebung und erhoffe mir dadurch andere Gedanken und neue Impulse. Die Tumormarker lasse ich zu Hause. Die Metastasen auch. Oder nein. Die Metastasen nehme ich mit, lasse sie aber dort. Ja, so machen wir es. 

Warum neue Liste?

So wie es aussieht, wäre das richtige Anknüpfungsthema jetzt die Talkshow „Unter uns“ in Weimar, wo ich allerdings, wie es mir erscheint, irgendwann im letzten Sommer war, so ewig weit weg ist es für mich. Aber was soll’s, ich erzähl’ dann mal.

Also, ich war in Weimar bei der Talkshow „Unter uns“, irgendwann letzten Sommer. Soweit ich mich angesichts der verstrichenen Zeit erinnere, war es wieder mal eine schöne Erfahrung, die Menschen vor und hinter den Kulissen äußerst angenehm, das Klima nicht nur freundlich, sondern geradezu familiär, ich fühlte mich von vornherein so gut aufgehoben, dass ich wider jegliches Erwarten mich kurz vor der Sendung mit gefüllten Eiern und Honigmelone vollstopfte (ja, ich weiß, eine unter Umständen etwas merkwürdige Kombination, zumal ich in den Wochen davor als Folge der OP kaum Appetit hatte) und meinen Auftritt danach trotzdem quasi mit links über die Bühne brachte. So hat es angeblich zumindest ausgesehen. (Bei diesen sympathischen Moderatoren war es tatsächlich keine so hohe Kunst. Zumal ich immer den alten Rat beherzige, dem, mit dem man gerade spricht, in die Augen zu schauen, als würde das Gespräch in meinem Wohnzimmer stattfinden. Klingt zu einfach, wenn man es aber ganz treuherzig befolgt, kann es klappen.) Der einzige heikle Punkt war, dass einer der Kameramänner oft so dicht hinter mir stand, dass ich stets befürchtete, dass er mir bei einem Schwenk die Perücke vom Kopf fegen würde. Tat er dann doch nicht.

Je aufwändiger ein Auftritt – Hinfahren, Dasein, Erzählen, Heimfahren -, desto bereichernder für mich. Wie sehr ich wiederum andere bereichert habe, weiß ich nicht, aber die Briefe daraufhin waren wieder sehr, sehr nett. Zumindest die längeren und persönlicheren habe ich wie immer auch alle beantwortet. Jedenfalls war diese Sendung alles in allem eine schöne Sache.

Am nächsten Tag war all das nichtig. Da wir neben der Städtebesichtigung (Weimar und Erfurt) noch etwas „Kulturelles“ machen wollten, fuhren wir zu der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Ich hatte es schon vor 30 Jahren einmal gesehen, Steffen wollte diese Bildungslücke noch schließen, und obwohl ich es gar nicht unbedingt vorhatte, machte auch ich die komplette Runde, setzte mich einer zyklischen Erinnerung aus. Wäre ich in Estland geblieben, wüsste ich vermutlich nur einen Bruchteil davon, was jedem, der in Deutschland nicht gerade mit Tomaten auf den Augen durch das Leben stolpert, hier unweigerlich immer wieder in Wort und Bild begegnet. So glaubte ich, diesbezüglich weitgehend vorbereitet zu sein. Und doch traf mich dieser Ort mit einer Wucht, die ich nicht erwartet hätte.

Ich war davon ausgegangen, dass es einfach wie mit einem Buch sein würde, die man nach zig Jahren mit einem neuen Blick und Erfahrungsstand liest. Nun stellte ich aber fest, dass wichtige Passagen in Milchschrift verfasst worden waren. (Jeder, der als Kind Spionageromane gelesen hat, weiß, dass man Milchschrift mit heißem Bügeleisen lesbar machen kann. Und mein Bügeleisen war meine Nase an der Vitrine, die nicht Zitate und Auszüge enthielt, sondern Originaldokumente, mit all ihren Unzulänglichkeiten und Tippfehlern. Obwohl das Glas dazwischen war, schien das fast Haptische von entscheidender Bedeutung zu sein. Man könnte darüber wieder leicht ins Sinnieren über das digitale Zeitalter kommen, wenn man möchte. Ich möchte, tue es aber nicht.) Wenn damals das Gegenständliche mein kindliches Interesse einfing – die Schuhe, die groben Jacken, deren Muff man noch durchs Glas zu riechen glaubte, auch wenn sie sicher längst behutsam chemisch gereinigt worden waren, die armseligen selbstgebastelten Kämme und Rasierpinsel -, verbrachte ich diesmal also die meiste Zeit damit, Dokumente in Maschinenschrift zu lesen, die ich damals keines Blickes gewürdigt hatte. Wieder stellte ich fest, dass ich mittlerweile bevorzugt entweder sehr groß oder sehr klein denke. Das Große schwang selbstverständlich sowieso mit, aber das Kleine erschütterte mich ungleich mehr - die Wortwahl der Lageroberen, diese gutgelaunte Arroganz des Chefs eines „gutgehenden Geschäfts“. (Auch wenn dieser in der nächsten Vitrine schon selbst tot war, hingerichtet.) Die Parallelwelt in der Sozialstruktur wie im Schriftwechsel – hier die armseligen Mitteilungen der Gefangenen, dort die Beschwerden der Lageroberen, dass die eigenen Leute zu fett seien und entweder mehr körperliche Übungen machen oder „den Maulkorb höher hängen“ sollen. Und bitte nur noch die edelsten Lokale aufsuchen statt in solchen SS-Angehöriger unwürdigen Spelunken zu verkehren (Liste anbei), und die Ehefrauen sollten doch bitte zahlreicher an den gemeinsamen Vergnügungen teilnehmen. (Ist doch klar, eine bunte Reihe ist immer netter, wem würde das nicht einleuchten?) Nebenbei erfuhr ich, dass der Gefangene X zwar generell ein „rechter Lausbub“ sei, sich diesmal aber einen wirklich „fetten Brocken geleistet“ habe. Wie leicht und heiter das alles, ganz wie auf dem Foto „Papa macht Witzchen“.

Immer wieder blitzten (im wörtlichen Sinne) in den Schreiben die zwei zusammengepferchten Buchstaben SS auf – zwei Blitze. Ich stelle mir vor, wie die Schreibmaschinen umgestellt werden mussten, wie zahlreiche Briefe hin- und her geschickt wurden mit dem Befehl, ab sofort und für die nächsten tausend Jahre die Produktion dahingehend umzustellen, dass nur noch mit diesem Symbol ausgestattete Schreibmaschinen für den Dienstgebrauch ausgeliefert werden durften. Wie lächerlich die Entstehungsgeschichte mancher Symbole, wie spielerisch ihr Ursprung, auch wenn dieses spezielle Corporate Design in rein kreativer Hinsicht auf recht dünnen Beinchen daherkommt ("Ja, schon verstanden, das S muss ganz eckig und entschlossen wirken, ein zackiges, zorniges S sieht aus wie ein Blitz, und Blitz fanden wir ja schon immer gut - "Blitzkrieg", "Blitzsieg" -,nun können wir sogar zwei Fliegen mit einer Klappe... äh, Taste schlagen, wo nehmen Sie bloß immer diese Ideen her?") Und wie gefährlich ihre Macht, hat man die banalen Umstände ihrer flächendeckenden Einführung erst mal vergessen.

Die Symbole, die (Schrift)Zeichen, das Kleine, das mich erschütterte, konnte diesmal aber nicht klein genug sein. Das, was in Erinnerung bleibt, ist meist sowieso schwer beeinflussbar, in diesem Fall muss ich immer noch und immer wieder an eine bestimmte Namensliste denken, von denen es dort an sich nicht gerade wenige gab.

Das erste Drittel der Namen in dieser Liste war entweder mit Punkten oder Häkchen versehen, um den Rest darunter hatte jemand mit roter Tinte eine lange Eckklammer gesetzt und in flotter roter Schrift längs hinzu geschrieben: „Neue Liste“. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf. Warum neue Liste? War es gut, da drauf zu kommen? Waren etwa die Ofenkapazitäten gerade ausgeschöpft? Bedeutete das Aufschub, und wenn ja, wie lange? Einen Tag, eine Woche, oder kam jemand von der neuen Liste gar davon?

Und warum waren oben neben manchen Namen Punkte, bei anderen aber Häkchen? Mit Bleistift gesetzt, nicht mit Tinte, also noch korrigierfähig? Hieß Häkchen: „So, jetzt reicht's mir, der kommt nun endgültig weg, hat mir schon lange genug Kopfschmerzen bereitet mit seiner Frechheit“. Oder hieß es schlicht: „Ist mittlerweile schon von allein verstorben“? (Warum bin ich mir überhaupt sicher, dass Häkchen Tod bedeutete und Punkt irgendwie besser war?) Warum waren manche Punkte größer als andere, gerade so, als wäre der Schreiber mit seinem Bleistift bei Betrachtung des Namens in Gedanken versunken, hätte gezögert und immer länger herumgekritzelt, bis der Punkt fast ein Ball wurde. Hieß es: „Hm, soll der jetzt wirklich weg mit dieser „Lieferung“ oder lassen wir den noch ‚ne Weile hier…“

Oder war es alles ganz anders und gerade ein Ball-Punkt zeugte von Selbstzufriedenheit beim Auslöschen eines bestimmten Lebens, während ein unentschlossener, unscheinbarer kleiner Punkt eine Rettungsoption darstellte? (Und warum glaube ich immer noch, dass Häkchen am schlechtesten war?) Es waren jedenfalls zwei Leute am Werke: einer mit Bleistift, der andere mit roter Tinte. Wer entschied, und was entschied derjenige? Bleistift gegen Tinte, aber wer sagt, dass die eigentliche Entscheidung der Tintenmensch traf? Das wäre womöglich zu kurz gedacht. Vielleicht musste einfach eine neue Liste her, weil der untere Teil nicht in alphabetischer Reihenfolge war, und das mit der flotten Tintenschrift war die Sekretärin, die es gerade entdeckte. Ja, vielleicht steckte da gar nicht mehr dahinter. Oder doch ein ganzes Leben, gar mehrere vielleicht? Ja, was war bloß mit dieser "Neuen Liste"?