Mittwoch, 18. April 2012

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Also, ich habe offiziell keine Knochenmetastasen. Zumindest keine, die man in der CT sieht. Selbst auf den ersten Blick höchstgradig verdächtige Aussagen am Ende des Befundes wie „DD osteosklerotische Metastasen. Knochenszintigramm?“ sollen mich nicht beunruhigen, es ist alles toll, ich könnte mit diesen Knochen boxen. Als ob mir etwas daran liegen würde. Aber gut zu wissen. Und ich werde den Teufel tun, den ganzen Rest übers Internet aufzuschlüsseln wie früher in meinen verbissenen Zeiten, zumal die goldige Zusammenfassung der Arzthelferin dazu lautete: „Sie werden halt langsam alt, da ist das normal“. Ach, wie gerne werde ich alt, würde ich alt. Unter dieser Prämisse liest es sich richtig angenehm: „Ventrale Spondylose der proximalen BWS, rechts dorsal sagittal und koronar abgrenzbare Verdichtungen im 8. BWK“ und so weiter, und so weiter. Beurteilung: zwei ätiologisch unklare Osteosklerosezonen da und da, flächig hier, degenerativ dort, nichts Interessantes. Keine größeren suspekten Läsionen, kein Frakturnachweis. Ich darf boxen. Das ist die Hauptsache.

Bleibt also „nur“ die Leber. Da die Knochen erst mal als Übeltäter ausscheiden und die Tumormarker trotz der neuen Chemo wieder gestiegen sind (statt vier- und fünffach nun fünf- und siebenfach über dem Normbereich), läuft da weiterhin eine Tour de France ab, nach diesen neuen Indizien wohl etwas schneller als durch die neue Chemo erhofft. Vielleicht bin ich noch zu sehr durch den Wind oder verdränge gerade, aber ich habe mir fest vorgenommen, das Wochenende in Schopfloch im Schwarzwald davon nicht verhageln zu lassen, oder wenn, dann nur vom Wetter. 

Liebe Freunde sehen, tagsüber hoffentlich in der Sonne Kubb spielen, Feuer machen, Forelle aus dem Teich des Bauern um die Ecke grillen, Musik hören, reden, lesen, abends am Ofen sitzen und Karten oder irgendwas spielen, essen und noch mehr reden. Steffen ist heute auch von Frankfurt runter gefahren (ich bin ja seit Februar Strohwitwe), also ist auch unser dreiköpfiges und achtbeiniges Rudel wieder zusammen. Emili wird morgen voller Wiedererkennungssfreude durch die Wiesen wetzen mit ihren 12 Jahren und sich auf jedem stinkenden Fleck ausgiebig herumwälzen. Was für ein Paradies.

Manchmal beneide ich sie, dass sie nichts von Tod weiß. Aber meistens nicht.

Dienstag, 17. April 2012

Gesundheits- und Befindlichkeitsreport April 2012

Nach mehreren einwandfreien, ach was, geradezu gesund anmutenden, glücklichen, energiegeladenen Wochen hängt das Damoklesschwert nun wieder recht dicht über meinem Kopf, und die Schlinge um den Hals, die zur Absicherung dient für den Fall, dass das Schwert versagt, zieht sich langsam wieder zu. 

Trockene Zahlen von vor ein paar Wochen, die man nach einigen Meinungen nicht ernst nehmen soll, die aber in meinem Fall immer zuverlässig die Realität abgebildet haben, bevor sie sichtbar wird: Die Tumormarker sind vier-bis fünffach über der Norm, die HER2/neu-Rezeptoren sogar 14-fach, das heißt, die Antikörper, die ich einnehme oder per Infusion bekomme, haben die Wirkung endgültig verloren. Ich muss sie trotzdem weiter nehmen, um es den bei mir besonders zahlreich vorhandenen Wachstumsrezeptoren (bin dreifach positiv) nicht noch einfacher zu machen, neue Baustellen aufzumachen bzw. alte wiederzubeleben. Im Ultraschall sieht die Leber allerdings nicht schlimm genug aus, um die schlechten Werte zu erklären, weshalb nun die Vermutung besteht, dass die Krebszellen ein anderes Organ befallen haben, die Knochen zum Beispiel. Niedrige Thrombozytenwerte, die nicht von der Therapie herrühren können, sprächen stark dafür. Endgültige Gewissheit gibt die Ganzkörper-CT morgen. Bestätigt sich die Befürchtung, werde ich vermutlich allerdings nicht sonderlich geschockt sein, nur für einige Tage geknickt.

Die Sache hat ja wie immer mehrere Seiten. Einerseits würde es eine neue Ära einleiten: neue Baustelle, neues Unglück. Bisher konnte ich immer sagen: „Nein, nur Leber“. Dann wären es „Leber und Knochen“. Der normale Weg wäre zum Schluss „Leber, Knochen, Lunge und Hirn“. Dass ich seit über sechs Jahren „nur Leber“ bin, ist ein Wunder. Ein noch größeres Wunder als „nur Leber“ ist allerdings „sechs Jahre“. Damals sahen ja schon sechs Monate reichlich optimistisch kalkuliert aus, so rasant und aggressiv wie sich meine individuellen Krebszellen vermehrten – als hätten sie einen Wettbewerb zu bestehen. Bei Tour de France, habe ich mir sagen lassen, ist es auch oft so, dass der, der am schnellsten und eifrigsten vorprescht, zum Schluss keuchend hinter die anderen zurückfällt. Meine Zellen haben die Sache wohl zu hemdsärmelig und großkotzig angegangen, weil sie angesichts ihrer zahlreichen Möglichkeiten mit mir ein besonders leichtes Spiel zu haben glaubten. Das haben sie jetzt davon: Ich lebe immer noch, während viele andere Krebskranke mit viel besserer Prognose es schon lange nicht mehr tun. Ihre Krebszellen haben sich wohl mit Bedacht vermehrt und nicht einfach im Höchsttempo in jede Kerbe geschlagen, die sie finden konnten.

Und wenn es jetzt die Knochen sind, erweitert sich zwar die Palette der Probleme, Beschwerden und Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen haben werde. Andererseits wird mich mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso die Leber dahinraffen und nicht die Knochen, Lebermetastasen sind bekanntlich am schnellsten, und meine, wenn sie in Fahrt sind und ihnen kein Einhalt geboten werden kann, preschen dann wieder vor wie Berserker. Irgendwann wird ihr dummer Eifer schon noch belohnt werden. Knochen können ganz schön Schmerzen machen, die Leber eher nur Druck und Unwohlsein, zumindest anfangs. Allerdings vergiftet eine versagende Leber den gesamten Organismus, man stirbt letztlich eben durch die Vergiftung oder innere Blutungen (letzteres soll angenehmer sein), während die Knochen „kein lebenswichtiges Organ“ sind, sie können im schlimmsten Fall nur brechen. Je nach der Stelle (Wirbelsäule) auch nicht begrüßenswert. Aber da gibt es altbewährte Mittel, Zometa, Bestrahlung, was weiß ich. Knochen sind unter ferner liefen. Die Leber gilt es zu behätscheln und bei Laune zu halten.

So befinde ich mich momentan selber in einer Art Tour de France, laufe Wette mit der Zeit und meinen Mitkonkurrenten, den Metastasen, die allerdings am längeren Hebel sitzen und wesentlich besser dopen als ich. Es gilt wirklich, durchzuhalten, um jeden Preis. Machen Sie das mal mit einem klapprigen Fahrrad, bei dem man in jeder Kurve die Kette neu aufziehen muss, während der andere das Rennrad seiner Wahl fährt, gesponsert durch MEINE (!) Her2/neu- und vermutlich noch andere Rezeptoren. Der Gegner lebt also von den großzügigen Angeboten in meinem Stall (oder sagt man „Stall“ nur bei Formel 1 und nicht bei denen, die mit Fahrrad unterwegs sind und beim Reifenwechsel keine vier oder acht Menschen brauchen? Haben die gar keinen Stall, die Armen? Oh Gott, bin ich unwissend. Aber ich interessiere mich so verdammt wenig für Hochleistungssport, für Geschwindigkeit und für Millimeter, mit denen ein Mensch einen anderen Menschen übertrifft, ich Banause. Trotzdem sei mir bitte der Vergleich mit denen erlaubt.  Denn ich fahre. Ich fahre, ich eiere, gebe aber nicht auf und ziehe einfach immer die Kette neu auf. Ich schrecke auch nicht vor unlauteren Mitteln zurück – Bein stellen, Gift in meinen Organismus einschleusen, mein Immunsystem aufrechterhalten, nicht durch Pillen, sondern positive Einstellung, oder, weil mich dieser Begriff mittlerweile nervt, durch möglichst oft gute Laune haben. Herbeigeführt durch alles Mögliche, was mir Krebs nicht nehmen kann.

Während bei meinen Metastasen auf der Zielfahne „Irjas Tod“ steht, steht auf meiner: „Neue vielversprechende Studie“. Es gibt nämlich ein neues Mittel Pertuzumab, die für Unsereins mit diesen verfluchten HER2-neu-Rezeptoren in Frage kommt (ca. ein Viertel aller Patienten), das aber noch nicht zugelassen ist. Heißt: man kommt zurzeit aufs Verrecken nicht dran, es wird noch nicht mal produziert, also kann ich auch nirgends im entsprechenden Lager einbrechen (Witz natürlich, bin doch nicht kriminell). Und wie man Moleküle klaut, weiß ich nicht (auch Witz natürlich; beziehungsweise kein Witz: ich weiß es wirklich nicht).

Da mein Arzt große Stücke darauf hält und die Studienergebnisse wirklich ermutigend sind (durchschnittlich 6,1 Monate mehr Lebenszeit - ein halbes Jahr, Leute!), habe ich jetzt ein Ziel vor den Augen: mich durchschleppen, bis diese Ambrosia erstmalig durch meine Adern fließt. Ob das Mittel mir hilft, weiß keiner, aber da mein Krebs so unheimlich schlau oder zumindest flexibel und vom Angebot her breit aufgestellt ist, kann ich mir gut vorstellen, dass sie hilft. Das ist kein  Widerspruch, denn bisher war es meistens so: Egal was man mir gab, es schlug meist an – mein Krebs hatte so viele verschiedene Verbreitungskanäle und Entwicklungsvarianten, dass man auch auf gut Glück immer irgendeinen Versorgungskanal oder eine Produktionsstätte für eine kurze oder auch durchaus längere Weile aushöhlen konnte, wie bei einer Razzia ins Blaue hinein.

Dieses Pertuzumab ist eigentlich gar kein Unbekannter für mich, mein Arzt und ich reden schon seit ein paar Monaten davon, aber ich habe es nicht in mein Leben gelassen, weil ich es schlecht aushalten kann, wenn ich kurz vor der Zulassung abkratzen sollte. Und ich bin ja bekannt dafür, Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Oder auch nicht kommen. Mit Herceptin war es genau so: Ich wäre prädestiniert dafür gewesen, aber damals gab man es nur bei Metastasen. Die Studien zeigten längst eine enorme Wirkung bei der Vermeidung oder Hinauszögern von Metastasen nach der Erstdiagnose, aber erst mutige und durchsetzungsfähige Patienten erstritten sich vor Gericht den Anspruch darauf von der Krankenkasse. Nun kriegt es jeder, auch ohne Metastasen, weil der Nutzen so eindeutig ist. Für mich kam es zu spät. Ich bekam es erst, als der Krebs bereits gestreut hatte.

Nachdem allein die Antragsstellung für die Zulassung von Pertuzumab mehrmals verschoben wurde und ich weiß, wie zäh diese Prozesse sind, habe ich mich gar nicht groß mit der Sache abgegeben. Die Trauben hingen zu hoch. Die aktuelle Info ist, dass es im November so weit sein könnte. November – eine Ewigkeit entfernt. Und dann wird es doch Mai 2013, und dann Oktober 2013, oder „durch eine kleine Verzögerung doch eher Frühjahr 2014“. Nein, die Trauben hängen immer noch zu hoch. Aber ich springe trotzdem, augenscheinlich beiläufig, in Wirklichkeit wie ein Blöder, bis mir die Luft endgültig wegbleibt. Nur will ich auf diesen Silberstreifen am Horizont nicht mein Leben ausrichten. Vielleicht ist es ein Fatamorgana für mich. Und wird erst für andere Realität.

Momentan bekomme ich neben dem Üblichen noch Abraxane. Der Plan war, es am Tag 1, 8 und 21 zu geben, das funktioniert aber nicht, weil dadurch die Thrombozyten und einiges mehr tatsächlich auf begründete Weise in den Keller rauschen. Dieses Taxol (der Wirkstoff bei beiden ist Paclitaxel) habe ich vor 3,5 Jahren schon bekommen, war leider nur für kurze Zeit erfolgreich. Aber jetzt soll es wenigstens besser verpackt (albumingebunden) und dadurch besser verträglich sein (kann ich aufgrund von den beiden bisher erhaltenen Gaben bestätigen), wodurch man auch höhere Dosen verabreichen kann. Ob und was das bringt, wissen wir noch nicht. Die Haare fallen dann wohl wieder aus, aber das, was ich da auf dem Kopf habe, sieht eh nach einem Orang-Utan-Baby oder einer verrückten alten Frau aus. Also verrückt, wenn sie so auf die Straße geht. Ich tue es nicht. Verlust daher eher irrelevant.

Haare sind generell irrelevant. Relevant ist, wie lange ich mit diesem Abraxane durchhalte und was danach kommt, um noch länger durchzuhalten, bis dieses verdammte, von mir mit Vorschusslorbeeren komplett bedeckte Pertuzumab eine Zulassung kriegt. Ich sehe vor meinem geistigen, allerdings im Pharmasachbearbeitungsmetier völlig unbewanderten Auge, wie die Akten mit der Überschrift „Zulassungsantrag Pertuzumab“ in einem Regal ganz oben verstauben, oder in einem Stapel ganz unten, bis sich ein dafür zuständiger Beamter langsam durch die oberen Sedimentschichten gearbeitet hat und Sandwich kauend murmelt: „Die übliche Überprüfungsfrist läuft langsam ab, die Kommission muss jetzt wirklich bald, also in den nächsten Monaten, jedenfalls in diesem oder nächsten Halbjahr, einen gemeinsamen Termin ins Lotus reinstellen, um zu entscheiden, ob der Antrag angenommen wird und überhaupt einer Prüfung unterzogen werden soll. Ach so, die haben sogar einen Eilantrag gestellt ob der guten Studienergebnisse. Ich schaue mal, vielleicht schreibe ich in den nächsten Wochwen eine Rundmail, oder so. Ach nee, da habe ich ja Urlaub, und danach ist der Vorsitzende zwei Monate auf Vortragsreise, und dann kommt sowieso erst mal die große alljährliche Krebskonferenz, ich habe also Zeit mit der Rundmail. Früher haben die aber mehr Mayonnaise in den Sandwich getan, ist bisschen trocken...“  

Donnerstag, 1. März 2012

Kommentare

Ich bekomme immer wieder Mails mit ungefähr folgendem Inhalt: „Ich habe getan und gemacht, habe gerade mühsam einen langen Kommentar geschrieben und mehrmals versucht, ihn reinzustellen, aber das klappt nicht. Da werden Sachen von mir verlangt, die ich nicht erfüllen kann oder wo ich nicht weiß, was das überhaupt sein soll (zum Beispiel ein Google-Konto?). Ich gebe jetzt endgültig auf und schreibe Ihnen/Dir stattdessen eine Mail.“

So sehr ich mich dann immer über die Mail, die vermutlich sogar länger und persönlicher als der verhinderte Kommentar ist, gefreut habe, so sehr habe ich mich auch über den Bloganbieter geärgert: „Ja genau, sonst überall schön meine Daten abgreifen, aber wenn die netten, rechtschaffenen Leute sich mal in meinem Blog äußern wollen, dann schön blockieren, so dass entweder nur die hartnäckigsten durchkommen oder nur die, die bei euch, ihr Halsabschneider, irgendein Konto oder was haben. Unverschämtheit! Ich gehe rüber zu Wordpress mit meinem Blog.“ Das „Rübergehen“ scheitert dann daran, dass ich keine Lust habe, die Prozedere mit dem Blogerstellen woanders nochmal durchzumachen. Obwohl es wohl nicht viel mehr verlangt als ein paar Daten beim neuen und einen Link „Ich bin hierhin umgezogen“ beim alten Blog, so zumindest meine Vorstellung. Packe ich aber irgendwie nicht - nervt mich, kostet Zeit, die mich nervt und die mir von Nichtnervigem abgeht. 

Deshalb habe ich den Leuten immer in einem persönlichen Antwortschreiben gesagt: „Das tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, warum das nicht klappt. Ich blockiere niemanden, ganz im Gegenteil, alle Kommentare sind willkommen. Aber eine Mail ist ja auch schön, vielen Dank dafür. Und wenn ich mein Blog zu einem anderen Anbieter (Wordpress oder so, muss mich mal kundig machen, was es alles gibt) rüberziehe, dann klappen sicher auch die Kommentare.“

Nachdem ich gestern sogar drei Briefe dieser Art bekam, war Blogspot allerdings wirklich fällig. So konnte es doch nicht weitergehen, denn die Dunkelziffer kenne ich ja nicht mal: Wer weiß, wer alles schon kommentieren wollte, es nicht konnte, sich ärgerte und mir auch nicht mailte, dass er es nicht konnte. Und meinem Blog aufgrund solch vermeintlich elitären Gehabes für immer den Rücken kehrte. Ich fing also ernsthaft an, nach anderen kostenlosen Blogportalen herumzusurfen. Kostenlos nicht nur, weil es nichts kostet, sondern auch, weil ansonsten jemand (mein Mann) das nach meinem Tod weiterbezahlen müsste. Wäre zumindest eine Schererei mit Kontoummeldung und so, aber die kostenlosen gehen ja auch, ich betreibe ja keine anspruchsvolle Seite mit Schnickschnack. 

Jetzt… Nun ja, wie soll ich sagen… Ich war mal in meinen Einstellungen drin – wahrscheinlich zum ersten Mal, seit ich dieses Blog betreibe –, und, khm, mir ist da etwas aufgefallen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das sagen soll… Ich habe da aus mir unerklärlichen Gründen ein Häkchen, das die Kommentarfunktion einschränkt und nur registrierte Nutzer zulässt. Aber ich war es nicht. Ich verdächtige da Kobolde. Und wenn ich es war, dann könnte höchstens sein, dass ich eine Schlafwandlerin bin und nicht weiß, was ich nächtens an meinem Computer treibe. Da ich bislang allerdings nicht durchs Nachtwandeln aufgefallen bin, denke ich eher, es waren doch Kobolde. Oder die CIA.

Jedenfalls habe ich das Häkchen weggemacht, und wenn nicht irgendwelche Gestalten es heute Nacht wieder reintun, kann in Zukunft jeder nach Herzenslust kommentieren. Ich antworte zwar vielleicht nicht immer, auch deshalb, weil mir oft nicht mehr einfällt als „Was für ein schöner Kommentar“ oder „Vielen Dank“, und das ist ja auf Dauer etwas einfältig. Aber ein warmes Lächeln und ein innerlich geflüstertes „Dankeschön“ sind Euch in jedem Fall sicher.

Dienstag, 21. Februar 2012

Die Rückkehr des Hungers

Das Frieren kannte ich so noch nicht. Ich war selbst mit acht Kleiderschichten und einer Daunendecke in einer völlig überheizten Wohnung nicht in der Lage, eine einigermaßen komfortable Körpertemperatur herzustellen, so dass ich wie ein poikilothermes Lebewesen tagelang weitgehend in einer einmal eingenommenen Position verharrte. Mit dem Unterschied, dass Wechselblüter durch eine externe Wärmequelle irgendwann mal warm werden. Ich wurde nicht warm. Es herrschte Stillstand. Die Körperfunktionen waren auch abseits der Eigenwärme so reduziert, dass „Tod durch Entkräftung“ für mich mittlerweile nicht mehr abstrakt ist, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie  so etwas abläuft. So ähnlich könnte in der Tat auch meine Endphase aussehen.

Ich nahm immer weiter ab, wog wohl nicht mehr als 40 Kilo, aber wenn man das Gefühl hat, da schwappt noch der Speisebrei von vor drei Tagen im Magen herum, mutet sich eine Nahrungsaufnahme wie ein lieber zu vermeidender Gewaltakt an. (Wie ich das Thai-Curry zu Silvester gekocht habe, weiß ich nicht. Ich habe sogar in der Tat davon gegessen und musste sagen: Hervorragend gelungen. Aber nach dem Kochen war ich fertig, als hätte ich zwölf Hektar Land mit einem altersschwachen Ochsen und Kind auf dem Rücken umgepflügt. Also ohne Ochsen auf dem Rücken, nur mit einem Kind, aber trotzdem.) Sogar ein Pickel in meinem Gesicht blieb tage- und wochenlang in demselben Zustand, wurde weder schlimmer noch besser. Stillstand eben, auf allen Fronten. Medizinisch betrachtet wohl alles recht bedenklich (ich meine jetzt natürlich nicht den Pickel), aber ich wusste, dass es nur eine Phase ist, dass das Ende noch nicht da sein kann, dass ich das Dahinvegetieren mit einem entschlossenen Aufbäumen beenden könnte, zwar nicht auf einen Schlag, aber peu  à peu. Nur hatte ich keine Kraft und auch keine große Lust mich aufzubäumen, es war mir egal.

Am bedenklichsten fand ich allerdings die Tatsache, dass ich bei Menschen im Fernsehen oder auch in Echt nicht vorrangig daran dachte, wie sie leben oder gelebt haben, sondern wie sie gestorben sind oder sterben werden. So habe ich immer schon auch bei den wegen der beschleunigten Bewegungen etwas grotesk wirkenden, stummen Aufnahmen aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts gedacht: „Alle, die ich dort gerade sehe, sind tot. Alle. Ohne Ausnahme.“ Nun kam ich mir selbst vor wie eine dieser Figuren, nur dass ich mich kaum bewegte, geschweige denn einen Tick zu schnell. So ähnlich fühlte ich mich in den wattetauben Tagen nach der Diagnose, als ich mal aus irgendeinem Grund in dem hiesigen Einkaufszentrum wandelte und dachte: „Ihr wisst es nicht, aber ich bin nur ein Geist“. Gesteigert wurden diese Gedanken in besonders schlimmen Momenten noch durch Einwürfe wie: „Wir sind alle verloren, alle miteinander. Niemand kann mir helfen, niemand kann irgendjemandem helfen. Was kann ein Würmchen schon ausrichten, um ein anderes Würmchen zu retten? Nichts.“

In diesem geistigen und körperlichen Zustand trat ich meine Reise nach Bali an. Aus dem Krankenbett ins Flugzeug steigen und mit den verbliebenen 100 Gramm Muskeln mehr als 24 qualvolle Stunden lang ans andere Ende der Welt reisen – ja, was soll man dazu sagen. (Aber es soll ja auch Leute geben, die fliegen ohne Haut am Körper um die Welt, siehe „Tot auf Probe“.) Eigentlich hätten wir auch gleich nach Australien, dem Inbegriff vom „anderen Ende der Welt“ fliegen können, es hätte sich nichts genommen. Schon als Steffen und ich im Morgengrauen ins eiskalte Auto stiegen, um zum Flughafen zu fahren, dachte ich: „Was mache ich da bloß wieder?“ Und dieser Gedanke tauchte fortan mehrmals stündlich auf. Kein Mensch, geschweige denn ein Mediziner, hätte mich hinfliegen lassen, hätte er mich vor dem Einsteigen live erlebt. Ich musste beim Check-in mich mit beiden Händen an der Theke festhalten und mich doch zwischendurch auf den Koffer setzen. Noch nie hat ein Beamter in der Passkontrolle so lange abwechselnd mein Foto und mich angestarrt. Irgendwann glaubte er aber wohl immerhin, dass ich nicht unter falschem Namen reise. Vermutlich hielt er mich für einen langjährigen Junkie. Da es aber kein Gesetz gibt, das Junkies das Reisen explizit verbietet, ließ er mich letztlich ohne eine einzige Frage durch.

Während Steffen und ich 12 Stunden lang auf der ersten Strecke nach Kuala Lumpur ironischerweise ausgerechnet auf den allerletzten Plätzen saßen, die man nicht verstellen kann, dachte ich: „Wenn ich aus dieser Sache ohne eine Lungenembolie rauskomme... Vielleicht gehe ich sehenden Auges in meinen Tod und die anderen Fluggäste müssen leider einen Teil der Strecke mit meiner am Sitz festgebundenen verdeckten Leiche verbringen“ (so profan kann es laufen, wenn der Flug komplett ausgebucht ist und die Geschichte von dem, der angeblich stundenlang zwei Reihen hinter einer Leiche saß, stimmt).  Ich besaß kein adäquates Zeitgefühl und schaute deshalb nicht mehr auf dem Display nach, wo wir sind. Wenn ich dachte, wir seien irgendwo über Indien oder zumindest Afghanistan, hatten wir noch nicht mal Wien erreicht. Falls man aufgrund einer langen Liegezeit nicht mehr weiß, wie man eigentlich aufrecht sitzt und seinen Sitz nicht mal fünf Zentimeter nach hinten stellen kann, kann der Verzicht auf Distanzkontrolle sinnvoll sein, es reduziert die Verzweiflungsmomente.
Der zweite Flug von Kuala Lumpur nach Denpasar, Bali verlief in Resignation und Apathie, ich habe auch nicht mehr wie sonst immer gedacht: „Wenn wir abstürzen, dann bitte auf dem Rückflug, dann habe ich wenigstens vorher was erlebt“. Mir war es egal, ob wir abstürzen, auch im Bewusstsein, dass es so dahingedacht ist und dass ich im Ernstfall wie alle anderen nach der Sauerstoffmaske greifen würde. Ich wollte nichts mehr, ich wollte auch nicht nach Bali, ich wollte ein Bett. Das hatte ich zu Hause gehabt, also dachte ich mal wieder: „Warum bin ich bloß hier?“.
Während wir auch noch drei Stunden lang in einem Taxi von Denpasar ans andere Ende der Insel gondelten, wusste ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte. Selbst Steffen, der Gesunde von uns beiden, sagte: „Ich bin am Ende. Wir sind bescheuert. Warum konnten wir uns nicht was Näheres aussuchen.“

Diese mühsame 24-stündige Anreise hat nicht meine Reserven aufgebraucht – ich hatte schon vorher keine. Ich habe es komplett aus der Substanz gemacht.  Aber manchmal muss man wohl in Vorleistung gehen, indem man die eigene Substanz als Pfand hergibt. Und man erhält dafür zunächst nichts als eine Verheißung, eine Hoffnung. Man weiß nicht, ob es ein Fiasko wird oder ob man sein Pfand doppelt zurückbekommt.

Ich bekam mein Pfand zehnfach zurück. Es war wie eine Ohrfeige für den Ohnmächtigen. Ich erwachte schlagartig zum Leben. Und mein Körper überraschte mich schon wieder. Ich entwickelte im Handumdrehen einen nie dagewesenen Hunger. Es wäre nicht falsch zu behaupten: einen Hunger nach Leben. Das wäre zudem schön und nur ein bisschen pathetisch. Aber in erster Linie ging es mir doch ums Essen. Ich futterte mehr als Steffen, ich wachte sogar nachts auf und aß schnell und konzentriert ganze Schachteln Kekse und jegliches herumliegende Obst, bis nichts mehr da war. Eines Nachts ging ich vor Hunger sogar auf die Suche nach den Bananenbäumen im Garten, von denen die Bananen am Vortag angeblich stammten. Die waren abgeerntet, der Rest zu klein, und ich wartete sehnsüchtig auf den Morgen, um wieder irgendetwas essen zu können. Ich hortete Keksschachteln, um nachts versorgt zu sein, falls ich aufwache. Ich dachte fast nur ans Essen und kannte nur zwei Zustände: einen unbändigen Hunger oder ein wahnsinniges Völlegefühl. Und doch war es herrlich. Nicht gerade normal, aber herrlich. Mein Körper hatte wohl gedacht, er würde tatsächlich verhungern, es käme nichts mehr, nie mehr – und dann plötzlich das! Natürlich nimmt man da alles, was man kriegt, und am liebsten noch mehr.

Die Schönheit des Landes, in dem ich angekommen war, hat mich zunächst nur gestreift. Ich fand es lieblich, angenehm, aber sie berauschte mich nicht, ich war zu beschäftigt mit mir selbst, auch wenn ich noch nie in Indonesien war. Aber ich war mir nicht böse – erst das Brot, dann die Spiele.

Das Bedürfnis nach Essen blieb allgegenwärtig und ich spürte förmlich, wie die Knochen millimeterweise wieder von Fleisch bedeckt wurden. Und ich erkannte, was für ein Glück es war, dass ich verrückt genug war, etwas auf mich zu nehmen, wovon mir fast jeder vernünftige Mensch abgeraten hätte, geschweige denn es selbst zu unternehmen. Es gab allerdings genug Situationen, in denen ich abermals dachte: „Was mache ich hier bloß wieder?“ Das war der Fall, als ich mit einem Hotelbediensteten auf dem Mofa eine Höllenfahrt über Stock und Stein im Jungle mitmachte, weil wir wieder mal ganz was Abgelegenes gebucht hatten. (Machen Sie das mal auf dünnen Knochen und mit postoperativen Verwachsungen in der Leber, die gemeinsam mit dem Mageninhalt herumhüpfen.) Oder als ich anderthalb Stunden auf einem Kahn ohne Sitzgelegenheit bzw. auf einer Art Hühnerstange verbrachte – für jemanden mit wenig Kraft und schmerzenden Knochen nicht so einfach zu bewältigen. Aber es ist zu bewältigen. (Dass es nichts zum Sitzen gab, hatte damit zu tun, dass man uns statt der versprochenen Fähre ein Frachtgutboot gab – friss oder stirb.)
Ich habe schon viele aufregende Bootsfahrten in meinem Leben mitgemacht, auf die manche Menschen gern verzichtet hätten, aber als wir von der kleinen Insel, die einer anderen kleinen Insel vorgelagert war, zurück aufs Festland fuhren, schien das uralte Miniboot dem Meer tatsächlich hilflos ausgeliefert zu sein, zumindest waren die Menschen im Boot dem halbwahnsinnigen Bootsführer hilflos ausgeliefert. Während selbst Steffen langsam bleich um die Nase wurde, grinste und ich muss gestehen, sogar jaulte ich jedes Mal etwas kindisch auf, als mein Hintern den Kontakt zu dem Sitz verlor, obwohl ich genau wusste, dass die anschließende Landung sich anmuten würde wie ein Aufschlag auf einen harten Holzboden. (Das wusste ich vom Meer gar nicht – dass es sich manchmal verhält, als sei es aus Holz, oder noch eher Zement . Wieder was gelernt.) Auf dem Festland angekommen, war ich völlig durchnässt und musste mich vor der Weiterfahrt hinter ein Auto gebückt komplett umziehen, weil ich in einer vom Personal nicht so gut kalkulierten Wellenphase zum hurtigen Sprung ins Wasser abkommandiert wurde. Als man einsah, dass es ein Fehler gewesen war, rief man mir nur: „Run! Run!“ Nicht so einfach, wenn die Füße im Sand versinken und man wenig Kraft hat, zumindest im Vergleich zu tobenden Wellen. Aber herrlich, wenn man es überlebt.
Selbsterwählter Zwang bringt zumindest bei mir einiges in Gang. Sich vor vollendete Tatsachen stellen, sich etwas völlig anderem ausliefern als dem, was zu Hause  oft genug die Bedingungen diktiert – nach der profansten Definition ist das zumindest Abwechslung. Und wenn man eine paradiesische Insel kennenlernen will, muss man gegebenenfalls vorher eben ein paar Höllenfahrten über sich ergehen lassen.

Zum Meer habe ich eine recht spezielle, ambivalente Beziehung, aber darüber habe ich schon in meinem Buch berichtet. Ich laufe ihm hinterher, seit ich es verloren habe. Und Steffen liebt das Tauchen. (Von mir bleibt die phantastische, magische Unterwasserwelt wegen meiner dicken Krankenakte für immer unentdeckt, worüber ich fast heulen könnte.) Deshalb verbrachten wir mehr als die Hälfte unserer dreieinhalb Wochen an verschiedenen Küsten und acht Tage davon blieben wir sogar auf einer einzigen Insel. Das Gesicht des Meeres war aufgrund der instabilen Wetterlage (es war ja Regenzeit) jeden Tag neu, das der Strandes ebenso, eines morgens begrüßte uns sogar ein über Nacht entstandener und recht reißender Fluss, der vom Dorf quer ins Meer lief und uns nicht mehr trockenen Fußes zum Restaurant ließ (wer aber permanenten Hunger hat, der watet gern).
Hätte mir einer vor der Reise gesagt: Für das Privileg, direkt auf dem Strand zu wohnen musst du nachts dreimal eine steile Treppe, eher eine Hühnerleiter herunterklettern, um auf die Toilette zu kommen (meine Nieren fingen wohl auch erst auf Bali an, wieder besser zu funktionieren) und dich mit kaltem Wasser duschen – ich hätte gesagt: „Na, das wollen wir sehen, das in meinem Zustand – sind Sie verrückt? Ich friere sowieso schon und brauche zumindest eine behindertengerechte, ebenerdige Wohnung, keine Hühnerleiter.“ Aber siehe da – ich habe es überlebt. Die Treppe hat mir sicherlich geholfen, ein-zwei Muskeln aufzubauen und Steffens Äußerungen zu der kühlen Außendusche unter freiem Himmel - „Stell dich nicht so an, das ist erfrischend“ - fand ich mit der Zeit gar nicht mehr so anmaßend und realitätsfern.

Die Wärme der tropischen Luft und die Wärme in mir, die sich schlagartig von selbst regulierte, nachdem ich zum Leben erwacht war, spüre ich jetzt noch, Wochen später. Während ich dies schreibe, ist mir, als würde ich gerade zusammen mit den Geckos und Grillen in meinem schwarz-rosa beblümten Wickelrock vor der Hütte sitzen und die blinkenden Bootslichter im schwarzen Wasser schillern sehen. All das, was Bali ausmacht beziehungsweise weshalb man als Normaltourist hingeht - die grünen Reisterrassen, die beeindruckenden Tempel und Tempeltänze, die wilde und die domestizierte Küste mit dem schwarzen oder weißen Sand, die Regenwälder und die vulkanischen und nichtvulkanischen Berge, die berühmte Handwerkskunst, die Herzlichkeit der Menschen, besonders im Hinterland, die unterschwellige Mystik, die unsichtbar wie die Neutrinos das ganze Alltagsleben durchdringt, die Sonne, auch wenn sie meist entweder milchig-weiß oder hinter den dunklen Wolken gar nicht lokalisierbar war, (den manchmal apokalyptisch anmutenden Regen lasse ich jetzt mal weg, weil man seinetwegen selten extra 13.000 km weit reist), die Tiere und die Vögel, die Schmetterlinge und die Blumen, und den ganzen Rest an Schönheit, den ich zu erwähnen vergesse – all das haben auch meine Augen gesehen, aber darüber gibt es so viele Bilder, Reportagen und Schilderungen, dass meine überflüssig sind. Außerdem hat meine Seele all dies nur leise, nebenbei und fast heimlich aufgenommen, sie hatte wohl kapiert, dass diesmal der Körper die erste Geige spielte, dass wir auf der Maslowschen Bedürfnispyramide erst auf den unteren Stufen herumkrabbelten und ich deshalb jeden atemberaubenden Sonnenuntergang gegen eine zünftige indonesische Mahlzeit eingetauscht hätte. Aber aufgenommen hat sie es. Während ich zu Hause in der Zeit mittlerweile nur bis zum Briefkasten gekommen wäre. Und das vermutlich auch noch als Fortschritt bezeichnet hätte. Niemals wäre ich zu Hause so schnell wieder auf die Beine gekommen, im direkten und übertragenen Sinn.

Fazit: Ich würde es wieder tun, und hoffentlich bekomme ich sogar noch Gelegenheit dazu, auch wenn ich mich jetzt erst mal finanziell etwas ruiniert habe und die nächste Reise warten muss. So lange zehre ich von dieser. Jedenfalls: Schonhaltung ist nicht gesund. Permanente Schmerzvermeidung kennt man schon von Zuhause, das halbe Leben ist darauf ausgerichtet, zumal wenn man krank ist. Aber Schmerzvermeidung ist kein Lebenskonzept, Schonhaltung lässt keine Erlebnisse zu. Leben aber besteht nun mal aus Erlebnissen. Und Ungewissheit gehört dazu, es ist geradezu eine Grundvoraussetzung, wenn man sich lebendig fühlen will. Wie viel Energie man darauf verschwendet, eine vermeintliche Sicherheit herzustellen oder aufrechtzuerhalten, also ebendiese Ungewissheit auszuschalten! Das ist ja, als würde man versuchen, das Leben auszuschalten. Ich versuche daran zu denken, wenn ich das nächste Mal bei Nacht und Nebel auf dem Weg zum Flughafen bin und mich frage: „Was mache ich hier bloß?“

Ich esse übrigens immer noch wie ein Scheunendrescher. Es ist jetzt wohl doch der Hunger nach Leben.

Mittwoch, 8. Februar 2012

Zurück als Hibiskusblüte


Nun wollte ich alle, die sich fragen, ob ich aus Bali lebendig zurückgekehrt bin, beruhigen und in schönen Worten erklären, dass ich dort zu Kräften gekommen und tatsächlich aufgeblüht bin wie seit langem nicht mehr. Aber wie es mir manchmal so passiert, kam beim Schreiben etwas völlig anderes raus, diesmal überraschenderweise ein Artikel über Bettler und Obdachlose. Über Bali und was das mit mir gemacht hat schreibe ich in Bälde. Falls ich dabei nicht in Musik oder Massentierhaltung abgleite. 

Jedenfalls: Ich blühe, und das mitten im Winter. Reisen verlängert mein Leben, dieser Satz gilt immer noch.

„Klirrende Kälte“ auf allen Kanälen oder: Geben ist seliger als Nehmen, will aber durchdacht sein, was ziemlich anstrengend sein kann - für beide Parteien



Von +30 auf -20 Grad, und ich rede nicht von Fahrenheit, sondern Celsius – da hat man erst mal einiges zum Akklimatisieren. Dass den TV-Moderatoren zu dieser Kälte kein anderes Adjektiv einzufallen scheint als „klirrend“, enttäuscht mich ein wenig, ansonsten finde ich diese „klirrende Kälte“, die „Deutschland fest im Griff hat“, sogar schön, weil sie mit Sonnenschein einhergeht. Wenn nur nicht diese Hunderte von Toten wären in Europa… Ich möchte gerne glauben, dass „die Solidarität in der Bevölkerung mit den Obdachlosen stärker geworden ist“, kann es aber nachvollziehen, dass manche der Obdachlosen die Hilfe ablehnen und nichts von einem Kältebus oder ähnlichem wissen wollen. Es gibt Menschen, die wollen partout keine Veränderung, weil jede Veränderung eine Störung des Tagesablaufs darstellt und Störungen sind nervig (so meine primitive, aber, wie ich finde, einleuchtende Erklärung). Ich habe einmal auf einer Estlandreise einen Obdachlosen, der bei Eisestemperaturen einen - zugegebenermaßen phantasievollen - Mantel aus Plastiktüten trug (ich glaube, die Tüten waren sogar aneinander genäht), gefragt, ob er sich etwas Warmes zum Anziehen kaufen würde, wenn ich ihm das Geld dafür geben würde, oder ob er bereit wäre, mich morgen zu treffen, wenn er selbst nicht zum Einkaufen käme (Subtext: Wenn er in keinen Laden reinkäme), dann würde ich einen warmen Mantel oder eine Jacke organisieren. Er hat mich wüst beschimpft und ist im Laufschritt von Dannen gezogen. Es ist zu kurzgegriffen, es damit abzutun, dass er einfach nicht ganz dicht war. Natürlich war er es nicht, und trotzdem ist es zu kurzgegriffen.

Ich bin allerdings manchmal auch ein nerviger Almosengeber – es kann sein, dass ich den Menschen frage, warum er in dieser Situation ist, und gebe besonders gerne, wenn man es nicht erwartet beziehungsweise wenn man gerade gar nicht explizit bettelt. Wer mich allerdings gar am Ärmel packt oder mir sein rumänisches Leihbaby oder seinen fehlenden Fuß unter die Nase hält, geht leer aus. In unmotiviert herumliegende Hüte werfe ich ebenfalls ungern was rein, weil das so beiläufig und unpersönlich ist und ich auf einen ordentlichen Dank erpicht bin, auch wenn ich es nicht zugebe. (Dabei ist es kein Geheimnis, dass Geben deshalb seliger als Nehmen ist, weil man sich dann so toll und gütig vorkommt.) Eine kurz erhobene Augenbraue reicht mir eben nicht, deshalb gebe ich selten, aber ordentlich. Allerdings habe ich auch einen Traum: Wäre ich reich, also ziemlich reich, würde ich ab und zu sehr armen Menschen, von denen ich irgendwo höre, einen ordentlichen Geldumschlag einfach in den Briefkasten schmeißen, ohne Absender. (Allerdings würde ich vermutlich selbst dann nicht ohne einen kurzen Satz wie „Viel Freude damit“ auskommen. Diese Geschwätzigkeit…) Irgendeiner Organisation eine astronomische Summe völlig anonym zu spenden – so weit reicht meine Phantasie nicht. Oder reicht meine Phantasie nicht aus, mir vorzustellen, wie es wäre, so reich zu sein, dass ich in der Lage wäre, irgendeiner Organisation eine astronomische Summe zu spenden, anonym oder nicht. Aber ich glaube, dass es gar nicht so angenehm ist, als Organisation eine große Summe von einem anonymen Spender zu bekommen, vielleicht käme man sich in Zukunft beobachtet und kontrolliert vor, von jemandem, den man nicht kennt. Ach, was weiß ich. Ich spiele in ganz anderer Liga und belästige stattdessen unschuldige Bettler, die nur in Ruhe ihre Almosen sammeln wollen. Oder ich belästige mit meinen wenigen Kröten Menschen, die gar nicht betteln.

Schon wieder in Estland habe ich eine alte, ordentlich angezogene Frau nach leeren Flaschen suchen sehen und ihr alle meine verbliebenen estnischen Kronen gegeben, weil ich eh auf die Fähre nach Finnland gehen wollte. Sie bedankte sich mehrfach, sagte aber, dass es ja so peinlich sei und dass es ja ein ekelhafter Anblick sein muss, wie sie da in den Mülleimern wühlt und überhaupt, sie hätte gehofft, dass sie niemand sieht, denn es sei ihr einfach so unglaublich peinlich, dass sie mittlerweile so tief gesunken ist, aber vielen Dank nochmal, das ist ja so nett, aber sie schämt sich jetzt so und... Meine Beteuerungen, dass es ihr zumindest vor mir nicht peinlich sein muss, und wenn es einem peinlich sein soll, dann dem estnischen Staat, und dass ich gar nicht in Estland wohne und sie nie wieder sehen werde, fruchteten nicht. Keine Ahnung, was ich bei ihr ausgelöst habe, aber ich hatte das Gefühl, dass die Freude über das Geld die Pein des Augenblicks überwog. Sonst hätte ich mich wirklich schlecht gefühlt. Verschwitzt und rot im Gesicht waren wir trotzdem beide, als wir uns genauso umständlich, wie wir uns über die Peinlichkeit und Nicht-Peinlichkeit ausgetauscht hatten, verabschiedeten.

Wenn man jung genug ist, zu glauben, man hätte hie und da einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen, kann man es aber auch anders anstellen. Einmal habe ich einen Punker beim Penny sitzen und Bier trinkend betteln sehen, typischer Fall von „Haste mal ‚ne Mark“. Da ich damals weder ein Auto noch einen Fahrstuhl hatte, mich beim Einkaufen aber ordentlich übernommen hatte, sagte ich ihm: „Ich gebe dir zwei, wenn du mir hilfst, die Tüten nach Hause in den fünften Stock zu tragen“. Damit, dachte ich, wäre doch uns beiden prima geholfen. Ein etwas stupider Auftrag, gewiss, aber, liebe Kinder, zwei Mark waren damals richtig Geld, dafür gab es bei Penny fast vier Dosen Bier. Das Gesicht nach dem Satzteil „Ich gebe dir zwei“ veränderte sich allerdings so plötzlich, dass mir Zweifel kamen, ob ich aus Versehen nicht gesagt hätte „…wenn du mir hilfst, dir deinen Irokesenschnitt abzurasieren“. Immerhin bequemte er sich von seinem Platz und trottete, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte („Musst warten, wenn ich beide Tüten tragen soll, brauch sonst unterwegs ‚ne Hand frei“), neben mir her bis zu meinem Haus. Als er mir weismachen wollte, die zwei Mark hätten wir nur bis zur Haustür vereinbart, bis nach oben verlange er nochmal zwei Mark, habe ich ihm freundlich erklärt, dass ich mich in dem Fall ganz herzlich für die Hilfe bedanke und ihm weiterhin einen schönen Tag bei Penny wünsche. Da erinnerte er sich dann doch an den Deal. Aber irgendwelche Deals mit Bettlern, und seien sie noch so jung und kräftig, gehe ich seitdem nicht mehr ein. Eine Gegenleistung zu erwarten, die über ein „Danke, Alter“ hinausgeht, ist nicht angebracht und kann auf den Empfänger lästig bis beleidigend wirken. Das will man ja nicht. Was man will, ist: sich toll und gütig vorkommen.

Ich habe noch zahlreiche andere Erfahrungen mit Bettlern und Obdachlosen gesammelt, aber mittlerweile versuche ich mich nicht mehr allzu sehr in anderer Leute Karma einzumischen. In hinduistischen Ländern habe ich oft gesehen, wie Frauen und Männer aufdringliche Bettler, auch Kinder, rüde abweisen, bis hin zur Ohrfeige, und ließ mir erklären: Sie stören das Karma, das ist Tabu und sie wissen es genau.  Nicht, dass ich das Kastensystem unterstützen oder es gar gutheißen würde, bettelnde Kinder zu ohrfeigen, zumal man es sich einfacher kaum machen kann, um Nichtgeben zu rechtfertigen, aber es gab mir was zum Nachdenken.  Wenn man es von der anderen Seite betrachtet, weiß man auch nie genau, was man mit seinen Almosen auslöst, insbesondere wenn sie für jene Verhältnisse nennenswert sind. In der schlimmsten Ereigniskette führt das zu Mord und Todschlag, wovon der Spender vermutlich gar nichts mitbekommt. Mord und Todschlag will man nun wirklich nicht heraufbeschwören, aber es braucht nicht viel, um gewissen Schaden anzurichten. 

Einmal, kurz vor der Abreise aus Indien, wollte ich meine restlichen Rupien einem netten armen Menschen zu schenken, alle auf einmal. Es war gar nicht so einfach, den Richtigen zu finden, es musste zudem möglichst unauffällig vonstatten gehen, und in Indien ist es schwer, als Europäer unbeobachtet zu sein. Ich wollte ja auch nicht, dass der Empfänger verprügelt und ihm das Geld wieder abgenommen würde – so viel hatte ich dann doch zu verschenken. Ich streifte lange durch die Gegend und taxierte die Menschen, als führte ich nichts Gutes im Schilde.  Mangels geeigneter Kandidaten, unkomplizierter Übergabeverhältnisse oder wegen sonstiger unbequemer Umstände wollte ich für das Geld fast schon irgendeinen Unsinn zusammenkaufen. Bis ich von weitem einen kleinen Jungen erblickte, kaum älter als fünf oder sechs Jahre, der zwei riesige Säcke voll Plastikabfall mitschleppte. Die Säcke waren zwar leicht, aber er selbst hätte dreimal in einen davon reingepasst, so groß waren sie. Endlich hatte ich den Adressaten meiner Wohltat gefunden: Klein und arm, aber so unglaublich fleißig, mit etwas Phantasie der Ernährer seiner kranken Eltern, des seit Jahren bettlägerigen Großvaters und der beiden jüngeren Schwestern, die diese drei Tag und Nacht pflegen müssen und deshalb nicht arbeiten können. Ich phantasierte noch weitere zu ernährende Verwandtschaft dazu, während der Junge sich näherte, und als der richtige Moment zur Geldübergabe gekommen wäre… ließ ich ihn vorbeiziehen. Sein Hemd war schmutzig, sein Gesicht noch schmutziger, aber diese Augen, die so vor Stolz strahlten, die schmächtigen Schultern und der hochgereckte Hals, der ausdrückte: „Ich trage eine Last, aber eine süße Last. Habe den ganzen Tag gearbeitet, jeden Stein umgedreht, um was zu finden, jetzt gehe ich nach Hause und zeige das Ergebnis vor. Die werden vielleicht Augen machen – eine so reiche Beute habe ich seit Monaten nicht gemacht. Ach, bin ich stolz und zufrieden. Müde, aber zufrieden. Vishnu, wie ist das Leben schön!“

Ich glaube, ich habe ihm mehr gegeben beziehungsweise ihm mehr gelassen, indem ich ihm nichts gegeben habe. Er schien zumindest für diesen Tag alles zu haben, was er wollte und brauchte. Und durch mich wäre es wertlos geworden. Morgen wäre ich weg gewesen, aber seine Plastikbeute hätte nicht mehr im Gras oder in der Mülltonne geglänzt, sondern hätte geflüstert: „Ja, nimm mich ruhig mit. Du musst aber noch Hunderte, Tausende wie mich einsammeln, bis du so viel Geld zusammen hast wie du gestern in ein paar Sekunden einfach so bekommen hast.“ Und der Junge wäre vielleicht nie mehr nach getaner Arbeit so beschwingt nach Hause gelaufen. Ich hätte ihm seine Glücksmomente vielleicht für immer gestohlen.

Karma hin oder her, aber ich lasse Bettler und Obdachlose heutzutage nach Möglichkeit in Ruhe. Klappt allerdings nicht immer. Und wenn ich auf Reisen ein wenig übers Ohr gehauen werde – was nicht oft passiert, weil ich mittlerweile recht abgebrüht bin -, sage ich: „Entwicklungshilfe“ oder „Die haben wenigstens einen Geschäftsplan“. Und wenn es doch mit mir durchgeht und ich meine, einen besonders sympathischen armen Menschen getroffen zu haben, dann… ja, dann muss er halt gegebenenfalls dran glauben. Geben ist einfach zu selig, um es immer zu lassen, und zumindest in Deutschland kann ich mit meinem Bisschen Geld niemandem schaden, dafür bin ich viel zu arm.

Donnerstag, 5. Januar 2012

Aufblühen wie eine Hibiskusblüte

Ich kriege gerade noch die Kurve, um allen Lesern  wenigstens ein gutes Neues Jahr zu wünschen, bevor auch dies obsolet wird. Mit guten Weihnachtswünschen wurde es ja nichts, nachdem ich ziemlich viele Tage, inkl. Heiligabend, flachlag. Die zweite Welle kommt nämlich immer, aber der Mensch ist halt ein vergessliches und optimistisches Wesen und denkt, es liefe beim fünften Mal auch mal anders. So kurz war mein Krankenhausaufenthalt noch nie: Donnerstag auf dem OP-Tisch (die fünfte Radiofrequenzablation, kurz: RFA), Samstag schon bei guter Gesundheit heimgeschickt. Nicht zu Unrecht oder gar ungern. Mir ging es so gut, dass ich zu Hause auf dem Tisch tanzte (ok, das ist übertrieben, aber ich habe voller Energie sofort meine Krankenhaustasche ausgepackt und habe stundenlang sonst wie herumgewurstelt und -sortiert, keine Ahnung, was – Energieüberschuss eben). Aber die zweite Welle kommt. Immer. Schon ein-zwei Tage später lag ich im Krankenlager wie sonst auch immer. Und irgendwann verpasse ich mir vor lauter Verzweiflung über die Schmerzen eine Überdosis Morphin. Mittlerweile kann ich mich tatsächlich eindeutig zu denen zählen, deren Schmerzen schwer in Griff zu kriegen sind. Bei der Visite staunen die Ärzte manchmal ganz schön über meine Tagesdosis, bei der ich immer noch völlig klar im Kopf bin. Bei dem Eingriff schickte der operierende Arzt nach einer zweiten Betäubungsdosis, denn „Sie braucht immer besonders viel“. Nach der ersten habe ich noch die Nadelpositionierung genau gespürt. Wirklich nicht angenehm. Genauso mit Morphin, ich brauche viel davon, dabei kriege dieses verdammte Mittel oftmals selten wirklich unter Kontrolle, zumal es mit den retardierenden Mitteln halt so ‚ne Sache ist, die wirken ja mit Verspätung. Selbst Sevredol, d.h. schneller wirkendes Morphin, hält sich nicht an seine eigene Beschreibung und wirkt bei mir keineswegs schnell. Ich würde mir gern selber Spritzen setzen, weil sie sofort wirken und ich damit die Schmerzbekämpfung hinauszögern kann, bis es wirklich nötig ist. Aber das scheint irgendwie eine kleine Schwellenüberschreitung zu sein zu… keine Ahnung, was. Angeblich ist da die Suchtgefahr größer, was ich weder logisch finde noch sonst ernst nehmen kann – in meiner Situation. Da ich diesmal fast nahtlos aus einem Eingriff in die nächste stolperte, bin ich aktuell sowieso zu lange drauf, aber nun bei 5 mg angekommen, was bei mir so gut wie Luft heißt. Aber richtig auf die Beine bin ich nicht gekommen. Der Organismus mag es halt nicht,  wenn er zwei Eingriffe innerhalb von wenigen Wochen hat, zwischen denen normalerweise mindestens drei Monate liegen sollten. Dass diese Eile von einer Mittelknappheit zeugt, was meine weitere Krebsbekämpfung betrifft, steht nicht auf einem anderen, sondern auf genau diesem Blatt. Wir haben halt nix mehr groß, um den Krebs aufzuhalten. Das bedeutet, dass er weiterzuwachsen begann, sobald der Operateur sein Messer beiseite legte. Oder was das genau ist, mit dem er arbeitet. Ein Verbrennungsapparat sozusagen.

Zwischen den beiden Eingriffen war ich ja in Finnland bei meiner Schwester. Mit ihr und ihrer jüngeren Tochter Liisa war ich auch noch drei Tage „drüben“ in Tallinn, meiner Heimat. Sie war zu der Erstvorführungsparty einer zehnteiligen Fernsehserie  eingeladen, die auf ihrem letzten Kinderbuch basiert. Sonst kaufen die estnischen Fernsehstationen ja auch alles ein, eine so gewaltige Eigenproduktion ist schon eine große Sache in Estland, das gab es seit vielen Jahren nicht mehr. Deshalb war das Timing perfekt, denn zusammen in Tallinn sind wir nicht immer.

Ich hatte also auch eine schöne Zeit dazwischen. Merkwürdigerweise ist mir besonders in Erinnerung geblieben, wie ich im Flugzeug nach Hause saß. Um mich herum nur Gesichter, die Überdruss, Langeweile oder Angespanntheit ausdrückten. Nur die Angetrunkenen waren fröhlich - und ich, trotz Abschiedsschmerz und so weiter. Es war so schön, sich gut zu fühlen. Oder genauer: einfach normal. Oberflächlich gesund. Und wenn ich an einem Tag keinerlei Beschwerden habe, bin ich ja an diesem Tag theoretisch gesund. (Eine Aussage, die ich für mich selbst immer wieder gerne wiederhole.) Ich befand mich mit meinem Körper in so friedlicher, harmonischer Ko-Existenz, dass ich ihm – völlig dekadent - im Flugzeug-Bauchladen sogar eine Creme kaufte, die ich nicht brauchte, die mich aber anlächelte und nach dem Öffnen viel, viel besser roch als vermutet. Da ich keinen Nebensitzer hatte, schmierte ich mich damit sogar kurzerhand ein und freute mich zusammen mit meinem immer noch viel zu dünnen Körperchen. Ein schöner Verwöhnmoment in einer ungewöhnlichen Umgebung, der jedes Mal wieder hochkommt, wenn ich mir nach dem Eincremen meinen Unterarm unter die Nase halte. Wie einfach, sich eine Freude zu machen.

Ach ja, Silvester war ja auch noch kürzlich, wir hatten mehrere Tage liebe Freunde zu Besuch, die in der Nähe von Barcelona wohnen, haben mit noch anderen lieben Freunden zum ersten Mal in unserer Wohnung gefeiert und auch wenn ich sehr schlapp war, habe ich voller Begeisterung bei dem Filme-Erraten mitgemacht (mithilfe von Pantomime, wozu ich mich in früheren, gesunden Zeiten ungern herabgelassen hätte. Früher wäre ich allerdings auch nie um Zwei ins Bett gegangen, während die anderen bis Fünf feiern. Zwar habe ich tatsächlich einiges verpasst, aber es schmerzte nicht so sehr wie es früher geschmerzt hätte. Da scheint eine Entwicklung im Gange zu sein.) Es gab also durchaus schöne Tage, für die man dankbar sein kann.

Abgesehen davon müsste ich mich auch jetzt freuen, weil Steffen und ich morgen nach Indonesien fliegen (okay, Bali, Lombok und so). Ganz spontan gebucht, nachdem die billigen Costa-Rica-Tickets wegwaren. So spontan, dass wir die Regenzeit nicht beachteten. Angeblich ist es dort nicht ganz so heftig wie mancherorts in Asien, aber angeblich hat Wulff auch die Berichterstattung in der „Bild“-Zeitung nur verzögern und nicht verhindern wollen (dies dient zur Demonstration meiner Tagesaktualität, die sich meistens sehr missen lässt. Leider habe oder hatte ich gegen Wulff nicht besonders viel, während ich mich an der Guttenberg-Debatte richtig ergötzen und meine niederen Instinkte rauslassen konnte (aber seine Reaktion war ja auch unerträglich, bei Wulff ist sie wenigstens nur normal peinlich). Interessant ist für mich in der Wulff-Sache vor allem, dass jemand, der sich als der ruhigste Mensch Deutschlands gibt, so in Panik geraten kann, dass er einem der gefährlichsten Menschen Deutschlands sein so oder so nicht ganz koscheres Anliegen einfach aufs Band spricht. Das ist doch keine Überschätzung der eigenen Macht, so handelt m.E. ein Panikeur. Ich schaue gerne hinter die menschlichen Kulissen, nur leider sind diese oft eh so fadenscheinig und dahinter ist genau das, was man erwartet: ein Mensch. Wie mit den Gastarbeitern: „Wir riefen nach Arbeitskräften, aber es kamen Menschen“ – „Wulff hat sich zum Bundespräsidenten gemausert, aber in Bellevue eingezogen ist ein Mensch“). So, dieser Abstecher von Bali zu Wulff sucht in der Verbindungsferne Seinesgleichen. Jedenfalls müsste ich für Bali packen („aber ich bin ein Mensch“), nur habe ich keinerlei Energie und Kraft, alles geht im Schneckentempo und jedes Aufstehen kostet unendlich Mühe. Wenn ich Steffen sehe, der sich federleicht aus dem Sessel schwingt, wenn ihm was einfällt, was er noch mitnehmen muss, werde ich neidisch. Hätte ich bloß ein Quäntchen seiner Energie! Ich habe allerdings fest vor, auf Bali aufzublühen wie eine junge Hibiskusblüte in der Regenzeit.

Das  Problem mit der Spontaneität: Man hat keine Zeit für Vorfreude. Man kann sich auch nicht sagen: „Gerade ist alles so blöd, aber in drei Wochen bin ich auf Bali!“ Ich bin geistig null vorbereitet und kann mir nicht vorstellen, dass mich ein stählerner Vogel in seinem Bauch morgen fast auf die andere Seite der Welt tragen wird. Dass es Flugzeuge gibt, versetzt mich manchmal immer noch ins Staunen, auch wenn ich finde, dass der Mensch fürs Fliegen eigentlich nicht gemacht ist. Was meine Dankbarkeit für diese Erfindung nicht schmälert. Müsste ich mit einer Postkutsche nach Bali, müsste ich schon seit Monaten unterwegs sein und würde meine Chemotermine verpassen. Jetzt verpasse ich zwar auch einen, aber das gehört zur Spontanität. Ich lebe zwar durch, aber nicht für die Chemo. Hab ja meine Tabletten auch noch, die vermutlich mittlerweile genauso wenig bringen. 

Ich weiß nicht genau, warum ich beim Packen immer wieder weinen muss (ich quäle mich beim Schreiben ab und zu vom Sofa und gehe was Wichtiges holen, was in die Tasche muss). Es ist nicht gesagt, dass es meine letzte Reise bleiben wird. Auch unseren Hund haben wir vor solchen Reisen schon oft genug zu Steffens Eltern oder zu seiner Tante gegeben, die sie alle sehr lieben und umgekehrt, daran kann es also auch nicht wirklich liegen. Undeutbare Emotionen, jedenfalls nicht ausschließlich Dankbarkeit, noch eine Reise erleben zu dürfen, was allerdings auch schon Grund genug zum Weinen gäbe. Vielleicht ist einfach alles gerade zu viel oder zu schnell oder habe ich einfach Angst vor den langen Flügen, bei denen es wegen meiner Kraftlosigkeit und Langsamkeit auch nicht zur Hetze kommen darf. Oder liegt es daran, dass Steffen zwei Tage nach unserer Wiederkehr in Frankfurt seinen neuen Job antritt, 200 km von hier. Allerdings sind es noch Wochen bis dahin – eine lange Zeit. Um das alles zu erläutern, braucht es einen eigenen Beitrag, zu dem ich heute aber nicht mehr komme.

Und wieder eine kleine Heuleinlage, toll. Ich muss wohl öfter mein aktuelles Mantra wiederholen: „Auf Bali blühe ich auf wie eine Hibiskusblüte“.