Dienstag, 21. Februar 2012

Die Rückkehr des Hungers

Das Frieren kannte ich so noch nicht. Ich war selbst mit acht Kleiderschichten und einer Daunendecke in einer völlig überheizten Wohnung nicht in der Lage, eine einigermaßen komfortable Körpertemperatur herzustellen, so dass ich wie ein poikilothermes Lebewesen tagelang weitgehend in einer einmal eingenommenen Position verharrte. Mit dem Unterschied, dass Wechselblüter durch eine externe Wärmequelle irgendwann mal warm werden. Ich wurde nicht warm. Es herrschte Stillstand. Die Körperfunktionen waren auch abseits der Eigenwärme so reduziert, dass „Tod durch Entkräftung“ für mich mittlerweile nicht mehr abstrakt ist, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie  so etwas abläuft. So ähnlich könnte in der Tat auch meine Endphase aussehen.

Ich nahm immer weiter ab, wog wohl nicht mehr als 40 Kilo, aber wenn man das Gefühl hat, da schwappt noch der Speisebrei von vor drei Tagen im Magen herum, mutet sich eine Nahrungsaufnahme wie ein lieber zu vermeidender Gewaltakt an. (Wie ich das Thai-Curry zu Silvester gekocht habe, weiß ich nicht. Ich habe sogar in der Tat davon gegessen und musste sagen: Hervorragend gelungen. Aber nach dem Kochen war ich fertig, als hätte ich zwölf Hektar Land mit einem altersschwachen Ochsen und Kind auf dem Rücken umgepflügt. Also ohne Ochsen auf dem Rücken, nur mit einem Kind, aber trotzdem.) Sogar ein Pickel in meinem Gesicht blieb tage- und wochenlang in demselben Zustand, wurde weder schlimmer noch besser. Stillstand eben, auf allen Fronten. Medizinisch betrachtet wohl alles recht bedenklich (ich meine jetzt natürlich nicht den Pickel), aber ich wusste, dass es nur eine Phase ist, dass das Ende noch nicht da sein kann, dass ich das Dahinvegetieren mit einem entschlossenen Aufbäumen beenden könnte, zwar nicht auf einen Schlag, aber peu  à peu. Nur hatte ich keine Kraft und auch keine große Lust mich aufzubäumen, es war mir egal.

Am bedenklichsten fand ich allerdings die Tatsache, dass ich bei Menschen im Fernsehen oder auch in Echt nicht vorrangig daran dachte, wie sie leben oder gelebt haben, sondern wie sie gestorben sind oder sterben werden. So habe ich immer schon auch bei den wegen der beschleunigten Bewegungen etwas grotesk wirkenden, stummen Aufnahmen aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts gedacht: „Alle, die ich dort gerade sehe, sind tot. Alle. Ohne Ausnahme.“ Nun kam ich mir selbst vor wie eine dieser Figuren, nur dass ich mich kaum bewegte, geschweige denn einen Tick zu schnell. So ähnlich fühlte ich mich in den wattetauben Tagen nach der Diagnose, als ich mal aus irgendeinem Grund in dem hiesigen Einkaufszentrum wandelte und dachte: „Ihr wisst es nicht, aber ich bin nur ein Geist“. Gesteigert wurden diese Gedanken in besonders schlimmen Momenten noch durch Einwürfe wie: „Wir sind alle verloren, alle miteinander. Niemand kann mir helfen, niemand kann irgendjemandem helfen. Was kann ein Würmchen schon ausrichten, um ein anderes Würmchen zu retten? Nichts.“

In diesem geistigen und körperlichen Zustand trat ich meine Reise nach Bali an. Aus dem Krankenbett ins Flugzeug steigen und mit den verbliebenen 100 Gramm Muskeln mehr als 24 qualvolle Stunden lang ans andere Ende der Welt reisen – ja, was soll man dazu sagen. (Aber es soll ja auch Leute geben, die fliegen ohne Haut am Körper um die Welt, siehe „Tot auf Probe“.) Eigentlich hätten wir auch gleich nach Australien, dem Inbegriff vom „anderen Ende der Welt“ fliegen können, es hätte sich nichts genommen. Schon als Steffen und ich im Morgengrauen ins eiskalte Auto stiegen, um zum Flughafen zu fahren, dachte ich: „Was mache ich da bloß wieder?“ Und dieser Gedanke tauchte fortan mehrmals stündlich auf. Kein Mensch, geschweige denn ein Mediziner, hätte mich hinfliegen lassen, hätte er mich vor dem Einsteigen live erlebt. Ich musste beim Check-in mich mit beiden Händen an der Theke festhalten und mich doch zwischendurch auf den Koffer setzen. Noch nie hat ein Beamter in der Passkontrolle so lange abwechselnd mein Foto und mich angestarrt. Irgendwann glaubte er aber wohl immerhin, dass ich nicht unter falschem Namen reise. Vermutlich hielt er mich für einen langjährigen Junkie. Da es aber kein Gesetz gibt, das Junkies das Reisen explizit verbietet, ließ er mich letztlich ohne eine einzige Frage durch.

Während Steffen und ich 12 Stunden lang auf der ersten Strecke nach Kuala Lumpur ironischerweise ausgerechnet auf den allerletzten Plätzen saßen, die man nicht verstellen kann, dachte ich: „Wenn ich aus dieser Sache ohne eine Lungenembolie rauskomme... Vielleicht gehe ich sehenden Auges in meinen Tod und die anderen Fluggäste müssen leider einen Teil der Strecke mit meiner am Sitz festgebundenen verdeckten Leiche verbringen“ (so profan kann es laufen, wenn der Flug komplett ausgebucht ist und die Geschichte von dem, der angeblich stundenlang zwei Reihen hinter einer Leiche saß, stimmt).  Ich besaß kein adäquates Zeitgefühl und schaute deshalb nicht mehr auf dem Display nach, wo wir sind. Wenn ich dachte, wir seien irgendwo über Indien oder zumindest Afghanistan, hatten wir noch nicht mal Wien erreicht. Falls man aufgrund einer langen Liegezeit nicht mehr weiß, wie man eigentlich aufrecht sitzt und seinen Sitz nicht mal fünf Zentimeter nach hinten stellen kann, kann der Verzicht auf Distanzkontrolle sinnvoll sein, es reduziert die Verzweiflungsmomente.
Der zweite Flug von Kuala Lumpur nach Denpasar, Bali verlief in Resignation und Apathie, ich habe auch nicht mehr wie sonst immer gedacht: „Wenn wir abstürzen, dann bitte auf dem Rückflug, dann habe ich wenigstens vorher was erlebt“. Mir war es egal, ob wir abstürzen, auch im Bewusstsein, dass es so dahingedacht ist und dass ich im Ernstfall wie alle anderen nach der Sauerstoffmaske greifen würde. Ich wollte nichts mehr, ich wollte auch nicht nach Bali, ich wollte ein Bett. Das hatte ich zu Hause gehabt, also dachte ich mal wieder: „Warum bin ich bloß hier?“.
Während wir auch noch drei Stunden lang in einem Taxi von Denpasar ans andere Ende der Insel gondelten, wusste ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte. Selbst Steffen, der Gesunde von uns beiden, sagte: „Ich bin am Ende. Wir sind bescheuert. Warum konnten wir uns nicht was Näheres aussuchen.“

Diese mühsame 24-stündige Anreise hat nicht meine Reserven aufgebraucht – ich hatte schon vorher keine. Ich habe es komplett aus der Substanz gemacht.  Aber manchmal muss man wohl in Vorleistung gehen, indem man die eigene Substanz als Pfand hergibt. Und man erhält dafür zunächst nichts als eine Verheißung, eine Hoffnung. Man weiß nicht, ob es ein Fiasko wird oder ob man sein Pfand doppelt zurückbekommt.

Ich bekam mein Pfand zehnfach zurück. Es war wie eine Ohrfeige für den Ohnmächtigen. Ich erwachte schlagartig zum Leben. Und mein Körper überraschte mich schon wieder. Ich entwickelte im Handumdrehen einen nie dagewesenen Hunger. Es wäre nicht falsch zu behaupten: einen Hunger nach Leben. Das wäre zudem schön und nur ein bisschen pathetisch. Aber in erster Linie ging es mir doch ums Essen. Ich futterte mehr als Steffen, ich wachte sogar nachts auf und aß schnell und konzentriert ganze Schachteln Kekse und jegliches herumliegende Obst, bis nichts mehr da war. Eines Nachts ging ich vor Hunger sogar auf die Suche nach den Bananenbäumen im Garten, von denen die Bananen am Vortag angeblich stammten. Die waren abgeerntet, der Rest zu klein, und ich wartete sehnsüchtig auf den Morgen, um wieder irgendetwas essen zu können. Ich hortete Keksschachteln, um nachts versorgt zu sein, falls ich aufwache. Ich dachte fast nur ans Essen und kannte nur zwei Zustände: einen unbändigen Hunger oder ein wahnsinniges Völlegefühl. Und doch war es herrlich. Nicht gerade normal, aber herrlich. Mein Körper hatte wohl gedacht, er würde tatsächlich verhungern, es käme nichts mehr, nie mehr – und dann plötzlich das! Natürlich nimmt man da alles, was man kriegt, und am liebsten noch mehr.

Die Schönheit des Landes, in dem ich angekommen war, hat mich zunächst nur gestreift. Ich fand es lieblich, angenehm, aber sie berauschte mich nicht, ich war zu beschäftigt mit mir selbst, auch wenn ich noch nie in Indonesien war. Aber ich war mir nicht böse – erst das Brot, dann die Spiele.

Das Bedürfnis nach Essen blieb allgegenwärtig und ich spürte förmlich, wie die Knochen millimeterweise wieder von Fleisch bedeckt wurden. Und ich erkannte, was für ein Glück es war, dass ich verrückt genug war, etwas auf mich zu nehmen, wovon mir fast jeder vernünftige Mensch abgeraten hätte, geschweige denn es selbst zu unternehmen. Es gab allerdings genug Situationen, in denen ich abermals dachte: „Was mache ich hier bloß wieder?“ Das war der Fall, als ich mit einem Hotelbediensteten auf dem Mofa eine Höllenfahrt über Stock und Stein im Jungle mitmachte, weil wir wieder mal ganz was Abgelegenes gebucht hatten. (Machen Sie das mal auf dünnen Knochen und mit postoperativen Verwachsungen in der Leber, die gemeinsam mit dem Mageninhalt herumhüpfen.) Oder als ich anderthalb Stunden auf einem Kahn ohne Sitzgelegenheit bzw. auf einer Art Hühnerstange verbrachte – für jemanden mit wenig Kraft und schmerzenden Knochen nicht so einfach zu bewältigen. Aber es ist zu bewältigen. (Dass es nichts zum Sitzen gab, hatte damit zu tun, dass man uns statt der versprochenen Fähre ein Frachtgutboot gab – friss oder stirb.)
Ich habe schon viele aufregende Bootsfahrten in meinem Leben mitgemacht, auf die manche Menschen gern verzichtet hätten, aber als wir von der kleinen Insel, die einer anderen kleinen Insel vorgelagert war, zurück aufs Festland fuhren, schien das uralte Miniboot dem Meer tatsächlich hilflos ausgeliefert zu sein, zumindest waren die Menschen im Boot dem halbwahnsinnigen Bootsführer hilflos ausgeliefert. Während selbst Steffen langsam bleich um die Nase wurde, grinste und ich muss gestehen, sogar jaulte ich jedes Mal etwas kindisch auf, als mein Hintern den Kontakt zu dem Sitz verlor, obwohl ich genau wusste, dass die anschließende Landung sich anmuten würde wie ein Aufschlag auf einen harten Holzboden. (Das wusste ich vom Meer gar nicht – dass es sich manchmal verhält, als sei es aus Holz, oder noch eher Zement . Wieder was gelernt.) Auf dem Festland angekommen, war ich völlig durchnässt und musste mich vor der Weiterfahrt hinter ein Auto gebückt komplett umziehen, weil ich in einer vom Personal nicht so gut kalkulierten Wellenphase zum hurtigen Sprung ins Wasser abkommandiert wurde. Als man einsah, dass es ein Fehler gewesen war, rief man mir nur: „Run! Run!“ Nicht so einfach, wenn die Füße im Sand versinken und man wenig Kraft hat, zumindest im Vergleich zu tobenden Wellen. Aber herrlich, wenn man es überlebt.
Selbsterwählter Zwang bringt zumindest bei mir einiges in Gang. Sich vor vollendete Tatsachen stellen, sich etwas völlig anderem ausliefern als dem, was zu Hause  oft genug die Bedingungen diktiert – nach der profansten Definition ist das zumindest Abwechslung. Und wenn man eine paradiesische Insel kennenlernen will, muss man gegebenenfalls vorher eben ein paar Höllenfahrten über sich ergehen lassen.

Zum Meer habe ich eine recht spezielle, ambivalente Beziehung, aber darüber habe ich schon in meinem Buch berichtet. Ich laufe ihm hinterher, seit ich es verloren habe. Und Steffen liebt das Tauchen. (Von mir bleibt die phantastische, magische Unterwasserwelt wegen meiner dicken Krankenakte für immer unentdeckt, worüber ich fast heulen könnte.) Deshalb verbrachten wir mehr als die Hälfte unserer dreieinhalb Wochen an verschiedenen Küsten und acht Tage davon blieben wir sogar auf einer einzigen Insel. Das Gesicht des Meeres war aufgrund der instabilen Wetterlage (es war ja Regenzeit) jeden Tag neu, das der Strandes ebenso, eines morgens begrüßte uns sogar ein über Nacht entstandener und recht reißender Fluss, der vom Dorf quer ins Meer lief und uns nicht mehr trockenen Fußes zum Restaurant ließ (wer aber permanenten Hunger hat, der watet gern).
Hätte mir einer vor der Reise gesagt: Für das Privileg, direkt auf dem Strand zu wohnen musst du nachts dreimal eine steile Treppe, eher eine Hühnerleiter herunterklettern, um auf die Toilette zu kommen (meine Nieren fingen wohl auch erst auf Bali an, wieder besser zu funktionieren) und dich mit kaltem Wasser duschen – ich hätte gesagt: „Na, das wollen wir sehen, das in meinem Zustand – sind Sie verrückt? Ich friere sowieso schon und brauche zumindest eine behindertengerechte, ebenerdige Wohnung, keine Hühnerleiter.“ Aber siehe da – ich habe es überlebt. Die Treppe hat mir sicherlich geholfen, ein-zwei Muskeln aufzubauen und Steffens Äußerungen zu der kühlen Außendusche unter freiem Himmel - „Stell dich nicht so an, das ist erfrischend“ - fand ich mit der Zeit gar nicht mehr so anmaßend und realitätsfern.

Die Wärme der tropischen Luft und die Wärme in mir, die sich schlagartig von selbst regulierte, nachdem ich zum Leben erwacht war, spüre ich jetzt noch, Wochen später. Während ich dies schreibe, ist mir, als würde ich gerade zusammen mit den Geckos und Grillen in meinem schwarz-rosa beblümten Wickelrock vor der Hütte sitzen und die blinkenden Bootslichter im schwarzen Wasser schillern sehen. All das, was Bali ausmacht beziehungsweise weshalb man als Normaltourist hingeht - die grünen Reisterrassen, die beeindruckenden Tempel und Tempeltänze, die wilde und die domestizierte Küste mit dem schwarzen oder weißen Sand, die Regenwälder und die vulkanischen und nichtvulkanischen Berge, die berühmte Handwerkskunst, die Herzlichkeit der Menschen, besonders im Hinterland, die unterschwellige Mystik, die unsichtbar wie die Neutrinos das ganze Alltagsleben durchdringt, die Sonne, auch wenn sie meist entweder milchig-weiß oder hinter den dunklen Wolken gar nicht lokalisierbar war, (den manchmal apokalyptisch anmutenden Regen lasse ich jetzt mal weg, weil man seinetwegen selten extra 13.000 km weit reist), die Tiere und die Vögel, die Schmetterlinge und die Blumen, und den ganzen Rest an Schönheit, den ich zu erwähnen vergesse – all das haben auch meine Augen gesehen, aber darüber gibt es so viele Bilder, Reportagen und Schilderungen, dass meine überflüssig sind. Außerdem hat meine Seele all dies nur leise, nebenbei und fast heimlich aufgenommen, sie hatte wohl kapiert, dass diesmal der Körper die erste Geige spielte, dass wir auf der Maslowschen Bedürfnispyramide erst auf den unteren Stufen herumkrabbelten und ich deshalb jeden atemberaubenden Sonnenuntergang gegen eine zünftige indonesische Mahlzeit eingetauscht hätte. Aber aufgenommen hat sie es. Während ich zu Hause in der Zeit mittlerweile nur bis zum Briefkasten gekommen wäre. Und das vermutlich auch noch als Fortschritt bezeichnet hätte. Niemals wäre ich zu Hause so schnell wieder auf die Beine gekommen, im direkten und übertragenen Sinn.

Fazit: Ich würde es wieder tun, und hoffentlich bekomme ich sogar noch Gelegenheit dazu, auch wenn ich mich jetzt erst mal finanziell etwas ruiniert habe und die nächste Reise warten muss. So lange zehre ich von dieser. Jedenfalls: Schonhaltung ist nicht gesund. Permanente Schmerzvermeidung kennt man schon von Zuhause, das halbe Leben ist darauf ausgerichtet, zumal wenn man krank ist. Aber Schmerzvermeidung ist kein Lebenskonzept, Schonhaltung lässt keine Erlebnisse zu. Leben aber besteht nun mal aus Erlebnissen. Und Ungewissheit gehört dazu, es ist geradezu eine Grundvoraussetzung, wenn man sich lebendig fühlen will. Wie viel Energie man darauf verschwendet, eine vermeintliche Sicherheit herzustellen oder aufrechtzuerhalten, also ebendiese Ungewissheit auszuschalten! Das ist ja, als würde man versuchen, das Leben auszuschalten. Ich versuche daran zu denken, wenn ich das nächste Mal bei Nacht und Nebel auf dem Weg zum Flughafen bin und mich frage: „Was mache ich hier bloß?“

Ich esse übrigens immer noch wie ein Scheunendrescher. Es ist jetzt wohl doch der Hunger nach Leben.

Mittwoch, 8. Februar 2012

Zurück als Hibiskusblüte


Nun wollte ich alle, die sich fragen, ob ich aus Bali lebendig zurückgekehrt bin, beruhigen und in schönen Worten erklären, dass ich dort zu Kräften gekommen und tatsächlich aufgeblüht bin wie seit langem nicht mehr. Aber wie es mir manchmal so passiert, kam beim Schreiben etwas völlig anderes raus, diesmal überraschenderweise ein Artikel über Bettler und Obdachlose. Über Bali und was das mit mir gemacht hat schreibe ich in Bälde. Falls ich dabei nicht in Musik oder Massentierhaltung abgleite. 

Jedenfalls: Ich blühe, und das mitten im Winter. Reisen verlängert mein Leben, dieser Satz gilt immer noch.

„Klirrende Kälte“ auf allen Kanälen oder: Geben ist seliger als Nehmen, will aber durchdacht sein, was ziemlich anstrengend sein kann - für beide Parteien



Von +30 auf -20 Grad, und ich rede nicht von Fahrenheit, sondern Celsius – da hat man erst mal einiges zum Akklimatisieren. Dass den TV-Moderatoren zu dieser Kälte kein anderes Adjektiv einzufallen scheint als „klirrend“, enttäuscht mich ein wenig, ansonsten finde ich diese „klirrende Kälte“, die „Deutschland fest im Griff hat“, sogar schön, weil sie mit Sonnenschein einhergeht. Wenn nur nicht diese Hunderte von Toten wären in Europa… Ich möchte gerne glauben, dass „die Solidarität in der Bevölkerung mit den Obdachlosen stärker geworden ist“, kann es aber nachvollziehen, dass manche der Obdachlosen die Hilfe ablehnen und nichts von einem Kältebus oder ähnlichem wissen wollen. Es gibt Menschen, die wollen partout keine Veränderung, weil jede Veränderung eine Störung des Tagesablaufs darstellt und Störungen sind nervig (so meine primitive, aber, wie ich finde, einleuchtende Erklärung). Ich habe einmal auf einer Estlandreise einen Obdachlosen, der bei Eisestemperaturen einen - zugegebenermaßen phantasievollen - Mantel aus Plastiktüten trug (ich glaube, die Tüten waren sogar aneinander genäht), gefragt, ob er sich etwas Warmes zum Anziehen kaufen würde, wenn ich ihm das Geld dafür geben würde, oder ob er bereit wäre, mich morgen zu treffen, wenn er selbst nicht zum Einkaufen käme (Subtext: Wenn er in keinen Laden reinkäme), dann würde ich einen warmen Mantel oder eine Jacke organisieren. Er hat mich wüst beschimpft und ist im Laufschritt von Dannen gezogen. Es ist zu kurzgegriffen, es damit abzutun, dass er einfach nicht ganz dicht war. Natürlich war er es nicht, und trotzdem ist es zu kurzgegriffen.

Ich bin allerdings manchmal auch ein nerviger Almosengeber – es kann sein, dass ich den Menschen frage, warum er in dieser Situation ist, und gebe besonders gerne, wenn man es nicht erwartet beziehungsweise wenn man gerade gar nicht explizit bettelt. Wer mich allerdings gar am Ärmel packt oder mir sein rumänisches Leihbaby oder seinen fehlenden Fuß unter die Nase hält, geht leer aus. In unmotiviert herumliegende Hüte werfe ich ebenfalls ungern was rein, weil das so beiläufig und unpersönlich ist und ich auf einen ordentlichen Dank erpicht bin, auch wenn ich es nicht zugebe. (Dabei ist es kein Geheimnis, dass Geben deshalb seliger als Nehmen ist, weil man sich dann so toll und gütig vorkommt.) Eine kurz erhobene Augenbraue reicht mir eben nicht, deshalb gebe ich selten, aber ordentlich. Allerdings habe ich auch einen Traum: Wäre ich reich, also ziemlich reich, würde ich ab und zu sehr armen Menschen, von denen ich irgendwo höre, einen ordentlichen Geldumschlag einfach in den Briefkasten schmeißen, ohne Absender. (Allerdings würde ich vermutlich selbst dann nicht ohne einen kurzen Satz wie „Viel Freude damit“ auskommen. Diese Geschwätzigkeit…) Irgendeiner Organisation eine astronomische Summe völlig anonym zu spenden – so weit reicht meine Phantasie nicht. Oder reicht meine Phantasie nicht aus, mir vorzustellen, wie es wäre, so reich zu sein, dass ich in der Lage wäre, irgendeiner Organisation eine astronomische Summe zu spenden, anonym oder nicht. Aber ich glaube, dass es gar nicht so angenehm ist, als Organisation eine große Summe von einem anonymen Spender zu bekommen, vielleicht käme man sich in Zukunft beobachtet und kontrolliert vor, von jemandem, den man nicht kennt. Ach, was weiß ich. Ich spiele in ganz anderer Liga und belästige stattdessen unschuldige Bettler, die nur in Ruhe ihre Almosen sammeln wollen. Oder ich belästige mit meinen wenigen Kröten Menschen, die gar nicht betteln.

Schon wieder in Estland habe ich eine alte, ordentlich angezogene Frau nach leeren Flaschen suchen sehen und ihr alle meine verbliebenen estnischen Kronen gegeben, weil ich eh auf die Fähre nach Finnland gehen wollte. Sie bedankte sich mehrfach, sagte aber, dass es ja so peinlich sei und dass es ja ein ekelhafter Anblick sein muss, wie sie da in den Mülleimern wühlt und überhaupt, sie hätte gehofft, dass sie niemand sieht, denn es sei ihr einfach so unglaublich peinlich, dass sie mittlerweile so tief gesunken ist, aber vielen Dank nochmal, das ist ja so nett, aber sie schämt sich jetzt so und... Meine Beteuerungen, dass es ihr zumindest vor mir nicht peinlich sein muss, und wenn es einem peinlich sein soll, dann dem estnischen Staat, und dass ich gar nicht in Estland wohne und sie nie wieder sehen werde, fruchteten nicht. Keine Ahnung, was ich bei ihr ausgelöst habe, aber ich hatte das Gefühl, dass die Freude über das Geld die Pein des Augenblicks überwog. Sonst hätte ich mich wirklich schlecht gefühlt. Verschwitzt und rot im Gesicht waren wir trotzdem beide, als wir uns genauso umständlich, wie wir uns über die Peinlichkeit und Nicht-Peinlichkeit ausgetauscht hatten, verabschiedeten.

Wenn man jung genug ist, zu glauben, man hätte hie und da einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen, kann man es aber auch anders anstellen. Einmal habe ich einen Punker beim Penny sitzen und Bier trinkend betteln sehen, typischer Fall von „Haste mal ‚ne Mark“. Da ich damals weder ein Auto noch einen Fahrstuhl hatte, mich beim Einkaufen aber ordentlich übernommen hatte, sagte ich ihm: „Ich gebe dir zwei, wenn du mir hilfst, die Tüten nach Hause in den fünften Stock zu tragen“. Damit, dachte ich, wäre doch uns beiden prima geholfen. Ein etwas stupider Auftrag, gewiss, aber, liebe Kinder, zwei Mark waren damals richtig Geld, dafür gab es bei Penny fast vier Dosen Bier. Das Gesicht nach dem Satzteil „Ich gebe dir zwei“ veränderte sich allerdings so plötzlich, dass mir Zweifel kamen, ob ich aus Versehen nicht gesagt hätte „…wenn du mir hilfst, dir deinen Irokesenschnitt abzurasieren“. Immerhin bequemte er sich von seinem Platz und trottete, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte („Musst warten, wenn ich beide Tüten tragen soll, brauch sonst unterwegs ‚ne Hand frei“), neben mir her bis zu meinem Haus. Als er mir weismachen wollte, die zwei Mark hätten wir nur bis zur Haustür vereinbart, bis nach oben verlange er nochmal zwei Mark, habe ich ihm freundlich erklärt, dass ich mich in dem Fall ganz herzlich für die Hilfe bedanke und ihm weiterhin einen schönen Tag bei Penny wünsche. Da erinnerte er sich dann doch an den Deal. Aber irgendwelche Deals mit Bettlern, und seien sie noch so jung und kräftig, gehe ich seitdem nicht mehr ein. Eine Gegenleistung zu erwarten, die über ein „Danke, Alter“ hinausgeht, ist nicht angebracht und kann auf den Empfänger lästig bis beleidigend wirken. Das will man ja nicht. Was man will, ist: sich toll und gütig vorkommen.

Ich habe noch zahlreiche andere Erfahrungen mit Bettlern und Obdachlosen gesammelt, aber mittlerweile versuche ich mich nicht mehr allzu sehr in anderer Leute Karma einzumischen. In hinduistischen Ländern habe ich oft gesehen, wie Frauen und Männer aufdringliche Bettler, auch Kinder, rüde abweisen, bis hin zur Ohrfeige, und ließ mir erklären: Sie stören das Karma, das ist Tabu und sie wissen es genau.  Nicht, dass ich das Kastensystem unterstützen oder es gar gutheißen würde, bettelnde Kinder zu ohrfeigen, zumal man es sich einfacher kaum machen kann, um Nichtgeben zu rechtfertigen, aber es gab mir was zum Nachdenken.  Wenn man es von der anderen Seite betrachtet, weiß man auch nie genau, was man mit seinen Almosen auslöst, insbesondere wenn sie für jene Verhältnisse nennenswert sind. In der schlimmsten Ereigniskette führt das zu Mord und Todschlag, wovon der Spender vermutlich gar nichts mitbekommt. Mord und Todschlag will man nun wirklich nicht heraufbeschwören, aber es braucht nicht viel, um gewissen Schaden anzurichten. 

Einmal, kurz vor der Abreise aus Indien, wollte ich meine restlichen Rupien einem netten armen Menschen zu schenken, alle auf einmal. Es war gar nicht so einfach, den Richtigen zu finden, es musste zudem möglichst unauffällig vonstatten gehen, und in Indien ist es schwer, als Europäer unbeobachtet zu sein. Ich wollte ja auch nicht, dass der Empfänger verprügelt und ihm das Geld wieder abgenommen würde – so viel hatte ich dann doch zu verschenken. Ich streifte lange durch die Gegend und taxierte die Menschen, als führte ich nichts Gutes im Schilde.  Mangels geeigneter Kandidaten, unkomplizierter Übergabeverhältnisse oder wegen sonstiger unbequemer Umstände wollte ich für das Geld fast schon irgendeinen Unsinn zusammenkaufen. Bis ich von weitem einen kleinen Jungen erblickte, kaum älter als fünf oder sechs Jahre, der zwei riesige Säcke voll Plastikabfall mitschleppte. Die Säcke waren zwar leicht, aber er selbst hätte dreimal in einen davon reingepasst, so groß waren sie. Endlich hatte ich den Adressaten meiner Wohltat gefunden: Klein und arm, aber so unglaublich fleißig, mit etwas Phantasie der Ernährer seiner kranken Eltern, des seit Jahren bettlägerigen Großvaters und der beiden jüngeren Schwestern, die diese drei Tag und Nacht pflegen müssen und deshalb nicht arbeiten können. Ich phantasierte noch weitere zu ernährende Verwandtschaft dazu, während der Junge sich näherte, und als der richtige Moment zur Geldübergabe gekommen wäre… ließ ich ihn vorbeiziehen. Sein Hemd war schmutzig, sein Gesicht noch schmutziger, aber diese Augen, die so vor Stolz strahlten, die schmächtigen Schultern und der hochgereckte Hals, der ausdrückte: „Ich trage eine Last, aber eine süße Last. Habe den ganzen Tag gearbeitet, jeden Stein umgedreht, um was zu finden, jetzt gehe ich nach Hause und zeige das Ergebnis vor. Die werden vielleicht Augen machen – eine so reiche Beute habe ich seit Monaten nicht gemacht. Ach, bin ich stolz und zufrieden. Müde, aber zufrieden. Vishnu, wie ist das Leben schön!“

Ich glaube, ich habe ihm mehr gegeben beziehungsweise ihm mehr gelassen, indem ich ihm nichts gegeben habe. Er schien zumindest für diesen Tag alles zu haben, was er wollte und brauchte. Und durch mich wäre es wertlos geworden. Morgen wäre ich weg gewesen, aber seine Plastikbeute hätte nicht mehr im Gras oder in der Mülltonne geglänzt, sondern hätte geflüstert: „Ja, nimm mich ruhig mit. Du musst aber noch Hunderte, Tausende wie mich einsammeln, bis du so viel Geld zusammen hast wie du gestern in ein paar Sekunden einfach so bekommen hast.“ Und der Junge wäre vielleicht nie mehr nach getaner Arbeit so beschwingt nach Hause gelaufen. Ich hätte ihm seine Glücksmomente vielleicht für immer gestohlen.

Karma hin oder her, aber ich lasse Bettler und Obdachlose heutzutage nach Möglichkeit in Ruhe. Klappt allerdings nicht immer. Und wenn ich auf Reisen ein wenig übers Ohr gehauen werde – was nicht oft passiert, weil ich mittlerweile recht abgebrüht bin -, sage ich: „Entwicklungshilfe“ oder „Die haben wenigstens einen Geschäftsplan“. Und wenn es doch mit mir durchgeht und ich meine, einen besonders sympathischen armen Menschen getroffen zu haben, dann… ja, dann muss er halt gegebenenfalls dran glauben. Geben ist einfach zu selig, um es immer zu lassen, und zumindest in Deutschland kann ich mit meinem Bisschen Geld niemandem schaden, dafür bin ich viel zu arm.