Mittwoch, 18. April 2012

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Also, ich habe offiziell keine Knochenmetastasen. Zumindest keine, die man in der CT sieht. Selbst auf den ersten Blick höchstgradig verdächtige Aussagen am Ende des Befundes wie „DD osteosklerotische Metastasen. Knochenszintigramm?“ sollen mich nicht beunruhigen, es ist alles toll, ich könnte mit diesen Knochen boxen. Als ob mir etwas daran liegen würde. Aber gut zu wissen. Und ich werde den Teufel tun, den ganzen Rest übers Internet aufzuschlüsseln wie früher in meinen verbissenen Zeiten, zumal die goldige Zusammenfassung der Arzthelferin dazu lautete: „Sie werden halt langsam alt, da ist das normal“. Ach, wie gerne werde ich alt, würde ich alt. Unter dieser Prämisse liest es sich richtig angenehm: „Ventrale Spondylose der proximalen BWS, rechts dorsal sagittal und koronar abgrenzbare Verdichtungen im 8. BWK“ und so weiter, und so weiter. Beurteilung: zwei ätiologisch unklare Osteosklerosezonen da und da, flächig hier, degenerativ dort, nichts Interessantes. Keine größeren suspekten Läsionen, kein Frakturnachweis. Ich darf boxen. Das ist die Hauptsache.

Bleibt also „nur“ die Leber. Da die Knochen erst mal als Übeltäter ausscheiden und die Tumormarker trotz der neuen Chemo wieder gestiegen sind (statt vier- und fünffach nun fünf- und siebenfach über dem Normbereich), läuft da weiterhin eine Tour de France ab, nach diesen neuen Indizien wohl etwas schneller als durch die neue Chemo erhofft. Vielleicht bin ich noch zu sehr durch den Wind oder verdränge gerade, aber ich habe mir fest vorgenommen, das Wochenende in Schopfloch im Schwarzwald davon nicht verhageln zu lassen, oder wenn, dann nur vom Wetter. 

Liebe Freunde sehen, tagsüber hoffentlich in der Sonne Kubb spielen, Feuer machen, Forelle aus dem Teich des Bauern um die Ecke grillen, Musik hören, reden, lesen, abends am Ofen sitzen und Karten oder irgendwas spielen, essen und noch mehr reden. Steffen ist heute auch von Frankfurt runter gefahren (ich bin ja seit Februar Strohwitwe), also ist auch unser dreiköpfiges und achtbeiniges Rudel wieder zusammen. Emili wird morgen voller Wiedererkennungssfreude durch die Wiesen wetzen mit ihren 12 Jahren und sich auf jedem stinkenden Fleck ausgiebig herumwälzen. Was für ein Paradies.

Manchmal beneide ich sie, dass sie nichts von Tod weiß. Aber meistens nicht.

Dienstag, 17. April 2012

Gesundheits- und Befindlichkeitsreport April 2012

Nach mehreren einwandfreien, ach was, geradezu gesund anmutenden, glücklichen, energiegeladenen Wochen hängt das Damoklesschwert nun wieder recht dicht über meinem Kopf, und die Schlinge um den Hals, die zur Absicherung dient für den Fall, dass das Schwert versagt, zieht sich langsam wieder zu. 

Trockene Zahlen von vor ein paar Wochen, die man nach einigen Meinungen nicht ernst nehmen soll, die aber in meinem Fall immer zuverlässig die Realität abgebildet haben, bevor sie sichtbar wird: Die Tumormarker sind vier-bis fünffach über der Norm, die HER2/neu-Rezeptoren sogar 14-fach, das heißt, die Antikörper, die ich einnehme oder per Infusion bekomme, haben die Wirkung endgültig verloren. Ich muss sie trotzdem weiter nehmen, um es den bei mir besonders zahlreich vorhandenen Wachstumsrezeptoren (bin dreifach positiv) nicht noch einfacher zu machen, neue Baustellen aufzumachen bzw. alte wiederzubeleben. Im Ultraschall sieht die Leber allerdings nicht schlimm genug aus, um die schlechten Werte zu erklären, weshalb nun die Vermutung besteht, dass die Krebszellen ein anderes Organ befallen haben, die Knochen zum Beispiel. Niedrige Thrombozytenwerte, die nicht von der Therapie herrühren können, sprächen stark dafür. Endgültige Gewissheit gibt die Ganzkörper-CT morgen. Bestätigt sich die Befürchtung, werde ich vermutlich allerdings nicht sonderlich geschockt sein, nur für einige Tage geknickt.

Die Sache hat ja wie immer mehrere Seiten. Einerseits würde es eine neue Ära einleiten: neue Baustelle, neues Unglück. Bisher konnte ich immer sagen: „Nein, nur Leber“. Dann wären es „Leber und Knochen“. Der normale Weg wäre zum Schluss „Leber, Knochen, Lunge und Hirn“. Dass ich seit über sechs Jahren „nur Leber“ bin, ist ein Wunder. Ein noch größeres Wunder als „nur Leber“ ist allerdings „sechs Jahre“. Damals sahen ja schon sechs Monate reichlich optimistisch kalkuliert aus, so rasant und aggressiv wie sich meine individuellen Krebszellen vermehrten – als hätten sie einen Wettbewerb zu bestehen. Bei Tour de France, habe ich mir sagen lassen, ist es auch oft so, dass der, der am schnellsten und eifrigsten vorprescht, zum Schluss keuchend hinter die anderen zurückfällt. Meine Zellen haben die Sache wohl zu hemdsärmelig und großkotzig angegangen, weil sie angesichts ihrer zahlreichen Möglichkeiten mit mir ein besonders leichtes Spiel zu haben glaubten. Das haben sie jetzt davon: Ich lebe immer noch, während viele andere Krebskranke mit viel besserer Prognose es schon lange nicht mehr tun. Ihre Krebszellen haben sich wohl mit Bedacht vermehrt und nicht einfach im Höchsttempo in jede Kerbe geschlagen, die sie finden konnten.

Und wenn es jetzt die Knochen sind, erweitert sich zwar die Palette der Probleme, Beschwerden und Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen haben werde. Andererseits wird mich mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso die Leber dahinraffen und nicht die Knochen, Lebermetastasen sind bekanntlich am schnellsten, und meine, wenn sie in Fahrt sind und ihnen kein Einhalt geboten werden kann, preschen dann wieder vor wie Berserker. Irgendwann wird ihr dummer Eifer schon noch belohnt werden. Knochen können ganz schön Schmerzen machen, die Leber eher nur Druck und Unwohlsein, zumindest anfangs. Allerdings vergiftet eine versagende Leber den gesamten Organismus, man stirbt letztlich eben durch die Vergiftung oder innere Blutungen (letzteres soll angenehmer sein), während die Knochen „kein lebenswichtiges Organ“ sind, sie können im schlimmsten Fall nur brechen. Je nach der Stelle (Wirbelsäule) auch nicht begrüßenswert. Aber da gibt es altbewährte Mittel, Zometa, Bestrahlung, was weiß ich. Knochen sind unter ferner liefen. Die Leber gilt es zu behätscheln und bei Laune zu halten.

So befinde ich mich momentan selber in einer Art Tour de France, laufe Wette mit der Zeit und meinen Mitkonkurrenten, den Metastasen, die allerdings am längeren Hebel sitzen und wesentlich besser dopen als ich. Es gilt wirklich, durchzuhalten, um jeden Preis. Machen Sie das mal mit einem klapprigen Fahrrad, bei dem man in jeder Kurve die Kette neu aufziehen muss, während der andere das Rennrad seiner Wahl fährt, gesponsert durch MEINE (!) Her2/neu- und vermutlich noch andere Rezeptoren. Der Gegner lebt also von den großzügigen Angeboten in meinem Stall (oder sagt man „Stall“ nur bei Formel 1 und nicht bei denen, die mit Fahrrad unterwegs sind und beim Reifenwechsel keine vier oder acht Menschen brauchen? Haben die gar keinen Stall, die Armen? Oh Gott, bin ich unwissend. Aber ich interessiere mich so verdammt wenig für Hochleistungssport, für Geschwindigkeit und für Millimeter, mit denen ein Mensch einen anderen Menschen übertrifft, ich Banause. Trotzdem sei mir bitte der Vergleich mit denen erlaubt.  Denn ich fahre. Ich fahre, ich eiere, gebe aber nicht auf und ziehe einfach immer die Kette neu auf. Ich schrecke auch nicht vor unlauteren Mitteln zurück – Bein stellen, Gift in meinen Organismus einschleusen, mein Immunsystem aufrechterhalten, nicht durch Pillen, sondern positive Einstellung, oder, weil mich dieser Begriff mittlerweile nervt, durch möglichst oft gute Laune haben. Herbeigeführt durch alles Mögliche, was mir Krebs nicht nehmen kann.

Während bei meinen Metastasen auf der Zielfahne „Irjas Tod“ steht, steht auf meiner: „Neue vielversprechende Studie“. Es gibt nämlich ein neues Mittel Pertuzumab, die für Unsereins mit diesen verfluchten HER2-neu-Rezeptoren in Frage kommt (ca. ein Viertel aller Patienten), das aber noch nicht zugelassen ist. Heißt: man kommt zurzeit aufs Verrecken nicht dran, es wird noch nicht mal produziert, also kann ich auch nirgends im entsprechenden Lager einbrechen (Witz natürlich, bin doch nicht kriminell). Und wie man Moleküle klaut, weiß ich nicht (auch Witz natürlich; beziehungsweise kein Witz: ich weiß es wirklich nicht).

Da mein Arzt große Stücke darauf hält und die Studienergebnisse wirklich ermutigend sind (durchschnittlich 6,1 Monate mehr Lebenszeit - ein halbes Jahr, Leute!), habe ich jetzt ein Ziel vor den Augen: mich durchschleppen, bis diese Ambrosia erstmalig durch meine Adern fließt. Ob das Mittel mir hilft, weiß keiner, aber da mein Krebs so unheimlich schlau oder zumindest flexibel und vom Angebot her breit aufgestellt ist, kann ich mir gut vorstellen, dass sie hilft. Das ist kein  Widerspruch, denn bisher war es meistens so: Egal was man mir gab, es schlug meist an – mein Krebs hatte so viele verschiedene Verbreitungskanäle und Entwicklungsvarianten, dass man auch auf gut Glück immer irgendeinen Versorgungskanal oder eine Produktionsstätte für eine kurze oder auch durchaus längere Weile aushöhlen konnte, wie bei einer Razzia ins Blaue hinein.

Dieses Pertuzumab ist eigentlich gar kein Unbekannter für mich, mein Arzt und ich reden schon seit ein paar Monaten davon, aber ich habe es nicht in mein Leben gelassen, weil ich es schlecht aushalten kann, wenn ich kurz vor der Zulassung abkratzen sollte. Und ich bin ja bekannt dafür, Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Oder auch nicht kommen. Mit Herceptin war es genau so: Ich wäre prädestiniert dafür gewesen, aber damals gab man es nur bei Metastasen. Die Studien zeigten längst eine enorme Wirkung bei der Vermeidung oder Hinauszögern von Metastasen nach der Erstdiagnose, aber erst mutige und durchsetzungsfähige Patienten erstritten sich vor Gericht den Anspruch darauf von der Krankenkasse. Nun kriegt es jeder, auch ohne Metastasen, weil der Nutzen so eindeutig ist. Für mich kam es zu spät. Ich bekam es erst, als der Krebs bereits gestreut hatte.

Nachdem allein die Antragsstellung für die Zulassung von Pertuzumab mehrmals verschoben wurde und ich weiß, wie zäh diese Prozesse sind, habe ich mich gar nicht groß mit der Sache abgegeben. Die Trauben hingen zu hoch. Die aktuelle Info ist, dass es im November so weit sein könnte. November – eine Ewigkeit entfernt. Und dann wird es doch Mai 2013, und dann Oktober 2013, oder „durch eine kleine Verzögerung doch eher Frühjahr 2014“. Nein, die Trauben hängen immer noch zu hoch. Aber ich springe trotzdem, augenscheinlich beiläufig, in Wirklichkeit wie ein Blöder, bis mir die Luft endgültig wegbleibt. Nur will ich auf diesen Silberstreifen am Horizont nicht mein Leben ausrichten. Vielleicht ist es ein Fatamorgana für mich. Und wird erst für andere Realität.

Momentan bekomme ich neben dem Üblichen noch Abraxane. Der Plan war, es am Tag 1, 8 und 21 zu geben, das funktioniert aber nicht, weil dadurch die Thrombozyten und einiges mehr tatsächlich auf begründete Weise in den Keller rauschen. Dieses Taxol (der Wirkstoff bei beiden ist Paclitaxel) habe ich vor 3,5 Jahren schon bekommen, war leider nur für kurze Zeit erfolgreich. Aber jetzt soll es wenigstens besser verpackt (albumingebunden) und dadurch besser verträglich sein (kann ich aufgrund von den beiden bisher erhaltenen Gaben bestätigen), wodurch man auch höhere Dosen verabreichen kann. Ob und was das bringt, wissen wir noch nicht. Die Haare fallen dann wohl wieder aus, aber das, was ich da auf dem Kopf habe, sieht eh nach einem Orang-Utan-Baby oder einer verrückten alten Frau aus. Also verrückt, wenn sie so auf die Straße geht. Ich tue es nicht. Verlust daher eher irrelevant.

Haare sind generell irrelevant. Relevant ist, wie lange ich mit diesem Abraxane durchhalte und was danach kommt, um noch länger durchzuhalten, bis dieses verdammte, von mir mit Vorschusslorbeeren komplett bedeckte Pertuzumab eine Zulassung kriegt. Ich sehe vor meinem geistigen, allerdings im Pharmasachbearbeitungsmetier völlig unbewanderten Auge, wie die Akten mit der Überschrift „Zulassungsantrag Pertuzumab“ in einem Regal ganz oben verstauben, oder in einem Stapel ganz unten, bis sich ein dafür zuständiger Beamter langsam durch die oberen Sedimentschichten gearbeitet hat und Sandwich kauend murmelt: „Die übliche Überprüfungsfrist läuft langsam ab, die Kommission muss jetzt wirklich bald, also in den nächsten Monaten, jedenfalls in diesem oder nächsten Halbjahr, einen gemeinsamen Termin ins Lotus reinstellen, um zu entscheiden, ob der Antrag angenommen wird und überhaupt einer Prüfung unterzogen werden soll. Ach so, die haben sogar einen Eilantrag gestellt ob der guten Studienergebnisse. Ich schaue mal, vielleicht schreibe ich in den nächsten Wochwen eine Rundmail, oder so. Ach nee, da habe ich ja Urlaub, und danach ist der Vorsitzende zwei Monate auf Vortragsreise, und dann kommt sowieso erst mal die große alljährliche Krebskonferenz, ich habe also Zeit mit der Rundmail. Früher haben die aber mehr Mayonnaise in den Sandwich getan, ist bisschen trocken...“