Samstag, 19. Juli 2014

Irjas Baum



Wenn ein geliebter Mensch für immer geht, ist das eine Tragödie. Es bleibt eine Lücke zurück, die so nicht mehr zu füllen ist. Das ist uns allen bewusst. Doch das Gefühl, das sich in uns ausbreitet, ist nicht nur nagende Trauer, sondern zugleich Resignation vor der Willkür des Lebens. Diese Allmacht des Lebens führt im ersten Schritt nicht zu einer Art Gleichmut, sondern läßt das Leben sinnlos erscheinen. Wohl dem der einen tiefen Glauben besitzt. Natürlich verändern sich in diesem Moment die Lebenswerte. In der Natur mit ihrer Unschuld und Schönheit findet man Trost und Ruhe. Freunde bieten wichtigen Halt, doch die eigene Bedeutungslosigkeit in unserem kleinbürgerlichen Leben wird uns vor Augen geführt, drängt sich auf, zementiert sich im Gedächtnis. Wer Irja näher kannte, ahnt, welche Leere sie hinterlässt. Sie war zweifellos eine große Bereicherung für uns, eine kostbare Perle, die wir mitten unter uns hatten. Unglaublich wie sie uns stets mit Freude und Offenheit begegnet ist und uns oft zum Nachdenken und Schmunzeln brachte. Sie war ein außergewöhnlicher Mensch mit einem ausgeprägtem Gespür für die Situation. Ihre strahlende Aura hat auch während ihrer Krankheit nichts verloren. Sie war ein Phänomen.
In ihren letzten wachen Stunden saß ich mit ihr lange auf der sonnigen Terrasse. Sie war klar und hat unentwegt gesprochen. Ihr Lebenswille schien, obwohl körperlich schon sehr strapaziert, spürbar ungebrochen. Als sich am Spätnachmittag die Pfarrerin etwas beiläufig zu uns setzte, hat sie auf ihre bekannt ruhige Art ihr schweres Herz erleichtert (nachdem sie gegenüber der Pfarrerin eingangs klar stellte, dass sie, wenn überhaupt, eher am buddhistischen Glauben etwas finde). Als sie so sprach, bemerkte Irja die Lederstiefel der Pfarrerin, lobte diese und wies dann auf ihre auffälligen Stiefelspitzen hin, die sich gut eignen, Menschen, die mit dem Gesicht im Matsch liegen, umzudrehen. Wie oft mußte sie sich mit dem Gesicht im Matsch liegend wieder und wieder aufrichten. Die abwartende Pfarrerin entgegnete nichts. Was auch. Bei solch einem Lebensschicksal, das vor rund 25 Jahren mit der Krebskrankheit des Vaters begann und nie wirklich endete. Auch vom plötzlichen Tod unseres kleinen Chihuahuas Emili wenige Wochen zuvor wurde sie nicht verschont. Mittlerweile erkenne ich, dass sie mit erhobenem Kopf in die andere Welt ging. Sie behielt ihren Stolz und ihre Tapferkeit bis zuletzt, obwohl ihr bewusst war und auch äußerte, dass ihr nur noch wenige Tage blieben. Es war Freitag der 07. März.2014. Sie löffelte Vanilleeis mit Kaffee und ich hoffe sehr, der Geschmack klebte noch lange an ihrem Gaumen. Ein strahlendes Lächeln fiel plötzlich über ihr Gesicht als die fette Hospizkatze vorbeischlenderte und Irja mit einem Finger auf sie deutete. An diesem herrlichen Sonnentag rauchte sie fast endlos Zigaretten und wollte gleich gar nicht mehr ins Zimmer zurück, so sehr genoss sie das Draußensein bis nach Sonnenuntergang. So scherzte sie, als wir drei ausgekühlt ins warme Zimmer zurückkamen „hm, jetzt sterbe ich noch an einer Lungenentzündung“. So war sie, unsere Irja. Stets einen markanten Spruch auf den Lippen. Kurze Zeit später fiel sie in einen langen, tiefen Schlaf und wurde nicht mehr wirklich wach. Sie ist wohl mit einem Lächeln von dieser Welt gegangen, das ist zutiefst tröstlich. Irja hat uns kurz nach Mitternacht am Neunten März für immer verlassen. 
Eine Freundin mit Erfahrung in der Sterbebegleitung erwähnte Tage später: „Es gelingt nicht jedem sanft in die andere Welt zu gleiten. Das ist ein Geschenk an Irja und womöglich ein allerletztes Geschenk von Irja an uns.“

Am 22.März.2014 haben wir unsere liebe Irja im Beisein all unserer Freunde würdevoll verabschiedet. Eine kleine Tafel an Irjas Baum 595 im FriedWald Schönbuch erinnert an sie.



Liebe Irja, im Innersten bin ich allein, Du fehlst mir sehr. Wir hatten eine schöne gemeinsame Zeit, auch wenn sie von Widrigkeiten durchsetzt war, wir haben uns immer wieder köstlich amüsiert und rege ausgetauscht, ja das haben wir. Du hast mich für mein weiteres Leben geformt, im Guten. Ich werde Dich nicht vergessen. Im Alltag und unterwegs wirst Du mir immer und immer wieder begegnen. Du hast mir ja so manche Phrase ins Ohr gesetzt. Deine Art von Ohrwurm eben. 
In tiefer Verbundenheit, Dein Steffen