Ich kann mich nicht erinnern, nach einem Krankenhausaufenthalt ein solches Schlafbedürfnis gehabt zu haben: 15 Stunden am Stück in der ersten Nacht, in den zwei darauffolgenden je 12 Stunden. Ein dermaßen merkwürdiger, lehrreicher, aber auch strapaziöser Krankenhausaufenthalt war das. Das lag nicht an schlechter Betreuung, sondern an meinen diesmaligen Zimmergenossinnen. Ein Krankenhausaufenthalt kann manchmal auch recht amüsant sein, zum Beispiel erinnere ich mich gern an eine Frau vom letzten Jahr, die sich wie folgt vorstellte: „Bettina, Entgiftung“. Ich dachte, sie sei Dialysepatientin, also fragte ich: „Nieren?“ Sie antwortete trocken: „Alkohol“. Diese Alkoholikerin entpuppte sich als eine interessante, gebildete und belesene Gesprächspartnerin und ich hoffe inständig, dass sie heute trocken ist. Und ein paar andere Zimmergenossinnen in meiner Laufbahn waren alles andere als unangenehm, auch wenn der Kontakt sich nie lange aufrecht hielt.
Aber noch nie habe ich solche Menschen als Zimmergenossinnen gehabt, noch nie wurde ich wochenlang vom dortigen Gesellschaftsleben, wenn man das so nennen mag, dermaßen aggressiv aufgesogen: zwei Irre beziehungsweise eine ziemlich bösartige und hochgradig manipulative Irre, die die Grenze von Magersucht und Bulimie (28,7 kg bei 1,70 m) über Borderline hinweg bis hin zur Schizophrenie längst überschritten hatte und einem damit ganz schön Angst einflößte. (Am Ende kamen allerdings drei starke Männer und brachten sie in die geschlossene Abteilung.) Und eine herrische, verbitterte Simulantin, die elf Tage allein zuhause verbringen musste - „Und keiner kümmerte sich um mich“ -, so dass sie mit Notarzt eingeliefert werden musste, weil sie jetzt Burnout hat. Sie hatte zwei Stimmen: eine knarzige und eine nasale, anklagende. Keine Ahnung, warum sie die zweite, die noch viel unangenehmer und schwerer zu ertragen war, einsetzte, wenn sie Mitleid erregen wollte oder sonst etwas bezweckte. Ich hätte die erste genommen.
Alle beide buhlten letztlich einzig und allein um Aufmerksamkeit. Leider taten sie dies mit so abstoßenden Mitteln, dass mein Mitleid und der Wunsch, verständnisvoll zu sein, schnell Wut und Ekel wich. Ich glaube, ich bin dadurch etwas asozialer geworden, vielleicht ist es sogar gut für mich. Jedenfalls werde ich nie mehr fünf Stunden lang leise vor mich hin weinen, bis ich eine Schmerzspritze kriege (eher laufe ich Amok), während eine eingebildete Kranke alle fünf Minuten auf Gutsherrinnenart meldet: „Mein Rücken ist ganz kalt“, „Wie geht diese Lampe da im Flur an?“, „Wieso kriege ich den Fernseher nicht an?“ und die drei Schwestern und eine Ärztin herbeiruft, um endlich bestätigt zu bekommen, ihre Füße seien ganz blau. (Mit dem Ergebnis, dass die Schwestern vor lauter Nichtsehen und Ratlosigkeit ihr ein warmes Fußbad einlassen und ihr die Füße salben wie bei Jesus. So geschickt muss man sein.) Und die sich füttern und aufs Klo bringen lässt, obwohl sie eigentlich sogar laufen kann, wenn das niemand sieht. Und die zwei Drittel der Nacht schnarcht wie ein Straßenbohrer, aber jeden, der tagsüber telefoniert, brüsk anweist, leiser zu sein. So, ruhig Blut, ich darf mich nicht reinsteigern, es gäbe einfach noch zu viel desselben zu schreiben und das mache ich jetzt nicht. Außerdem war die Bulimikerin viel interessanter und gefährlicher und fraß viel mehr Nerven als diese verbitterte alte einsame Frau. Immerhin tut die Bulimikerin mir mit etwas Abstand wieder leid. Es ist ja auch echt verzwickt, wenn man eigentlich nicht zunehmen will, weil man sich mit 29 kg schöner findet, zumal man wegen vorangegangener Straftaten ins Gefängnis muss, sobald man das Gewicht einigermaßen beisammen hat. Verständlich, dass man da in Panik gerät, wenn man entdeckt, dass man nicht genug gekotzt hat und trotz aller Vorsicht doch 200 Gramm zugenommen hat. Vergessen auch, dass sie, nachdem ihre Kontaktaufnahmen nicht mehr fruchteten, weil ihr permanenter Redeschwall einzig auf irgendeinen neuen schwer durchschaubaren Manipulationsversuch hinauslief, nachts schlagartig motorisch so schlecht drauf war, dass ihr ständig Gegenstände herunterfielen wie Besteck, Schlüsselbund, stapelweise Bücher, und - ich könnte fast schwören - unter anderem eine große leere Plastikgießkanne und ein Amboss.
Was habe ich gerade selbst gesagt? Schluss damit. Wenn man größtenteils mit selbstgewählten, angenehmen Menschen zusammen ist, lässt sich in seinem Elfenbeinturm leicht philosophieren: „Wir sind alle eins, sind miteinander verbunden und gehören zusammen“. Wenn man seit langem so brutal mit den Realitäten der menschlichen Seele und der menschlichen Handlungen konfrontiert wird, wird es schon schwieriger. Also muss ich mich anstrengen, um diese These aufrechtzuerhalten, statt hier Gift zu spritzen und nachzutreten. (Aber ehrlich, es war so abstoßend, ich möchte nicht mit jedem Eins sein, bitte.)
Dafür traf ich aber auch eine der bemerkenswertesten, stärksten, witzigsten Frauen, die ich je in meinem Leben kennengelernt habe, insofern war es im Nachhinein betrachtet eine richtige Bereicherung. Sie ist 68, hatte neunmal Blasenkrebs, einmal Lungenkrebs (jetzt kam die zweite, noch bösartigere Lungenkrebsdiagnose dazu), einen Herzinfarkt vor sechs Wochen, was die Therapie ziemlich erschwert, sowie Kleinkram wie Typhus im Kindesalter und Eileiterschwangerschaft mit drei Liter Blutverlust, die sie nur dank ihrem zweijährigen Sohn überlebte, außerdem hat sie eine künstliche Bauchspeicheldrüse und noch ein paar Sachen, die mir nicht mehr einfallen. Zwei Kinder hat sie allein groß gezogen, die sie täglich besuchten. Diese Frau hat Humor, Verstand und Anstand. Während eine Gleichaltrige – ebenfalls 68 - sich nebenan füttern lässt wie ein Baby. Die Motive, sich ins Krankenhaus zu begeben scheinen wirklich vielfältig zu sein. Und manche Ereignisse schweißen einfach zusammen, wir sind beide dankbar, diese Zeit wenigstens gemeinsam durchstanden zu haben und fühlen uns jetzt wie Kriegskameraden und wollen regelmäßige Veteranentreffen einführen.
Zurück zu Gesundheitsfakten. Beziehungsweise: Nun zu den Gesundheitsfakten. Mit 46 kg bin ich bereits leicht untergewichtig hin, mit 42,8 kg wieder heim. (Jetzt meine ich immer, ich sitze auf einem Knopf, dabei ist es mein Steißbein.) Dies wiederum lag nicht an den Irren, sondern daran, dass mein Bauch so voller Luft war, dass Essen unmöglich war. Jetzt gebe ich jedem leichten Hungergefühl großzügig nach, um mich wieder aufzupäppeln. Habe leider Afinitor zu früh wieder voll eingesetzt, so dass meine Mundschleimhäute sofort hinüber waren. Musste reduzieren und langsam steigern.
Ein Tumor von 6x5x4 cm im linken Leberlappen ist weg, leider allerdings, wie wegen der gefährlichen Nähe zu Magen, Darm und Gallenblase schon befürchtet, mit einem Überbleibselrand. Selbstverständlich bekam ich eine Infektion, diesmal eine richtig hartnäckige und wohl auch gefährliche, die mehrere Antibiotika auf Probe stellte. Momentan nehme ich das vierte Antibiotikum und die Entzündungswerte erscheinen rückläufig.
Der Tatsache, dass ich am OP-Tag zufällig an einer besonderen Visite teilhaben konnte, verdanke ich vermutlich nicht zuletzt den Umstand, dass ich diesmal kaum erinnerungswürdige Schmerzen hatte. Die Professorin, die sich eigentlich auch nur mit Privatpatienten abgeben könnte, macht nämlich einmal wöchentlich eine Gesamtvisite. Nachdem ich ihr sagte, dass mir die dem Eingriff anschließenden Schmerzen Sorgen machen, weil es letztes Mal nicht wirklich gut lief, befahl sie, mich bei Bedarf jederzeit unverzüglich mit allem zu versorgen, was ich brauche. (Diese Frau ist, mit Verlaub und allem Respekt, wirklich eine Wucht. Eine absolut faszinierende, freundliche, Geist und Stärke ausstrahlende Persönlichkeit. Für mich der ultimative Beweis, dass Schönheit von innen kommt und auch im betagten Alter möglich ist. Und dies sage ich völlig ohne morphinbetrübten Blick oder nur weil sie so nett zu mir war.)
Schmerztechnisch lief es jedenfalls wirklich optimal und ich habe einen Teil meiner diesbezüglichen Ängste begraben können. (Wie merkwürdig es sich später im eigenen Entlassungsbericht liest: „Patientin wach, orientiert, blass, ängstlich“.) Es scheint jedenfalls ohne weiteres möglich zu sein, einen Patienten weitestgehend schmerzfrei zu halten, wenn man es nur wirklich will. Das ist gut zu wissen, denn ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass meine Schmerzen schwer zu bekämpfen sind, weil ich auf Schmerzmittel überdurchschnittlich schlecht oder unterdurchschnittlich gut anspreche. Jetzt bin ich allerdings schon beim Ausschleichen, wie Mediziner das nennen, noch höchstens eine Woche und ich bin wieder clean. Nur nicht zu ungeduldig werden und zu schnell reduzieren, sonst wache ich nachts doch vor Schmerzen auf.
Mein Aufenthalt außerhalb des Krankenhauses ist diesmal allerdings kurzfristig. Am liebsten hätte mich mein Arzt schon diese Woche schon wieder hingeschickt, weil die Metastase im rechten Lappen doch auch recht eilig sei, und sonst kommt Weihnachten und der ganze Kram. „Keine Zeit verlieren“ ist sonst auch meine Devise, aber ein Roboter bin ich nicht. Mit guten Argumenten („Hab gar keine Substanz mehr, wiege ja nix; bin mental noch nicht so weit, muss zwischendurch was anderes sehen“) ergab sich der Kompromiss, dass ich am 14.12 hingehe. In der Zwischenzeit fliege ich spontan nach Finnland, um meine Schwester Kristiina und meine Nichten Petra und Liisa zu besuchen. Ein geographischer Wechsel, der dazu nötig ist, kommt mir gerade recht. Zwischendurch machen wir einen Abstecher mit der Fähre nach Tallinn, meiner Heimatstadt. Somit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, denn mindestens einmal jährlich will ich Estland sehen. Es ergibt sich irgendwie immer wieder, dass ich meine Heimat zur hässlichstmöglichen Jahreszeit besuche, aber das bekümmert mich nicht so. Eher die Tatsache, dass ich Dienstagabend zurück und schon Mittwochmorgen im Krankenhaus sein muss.
Steffen ist zurück vom Kino: Höchstnote, was bei ihm heißt: „Ein Film ohne eine einzige Schwäche“. Fühlt sich sehr bereichert, wenn auch schwer angeschlagen. Ansonsten konform mit der Spiegelrezension: Sehr, sehr gut. Aber nacherzählen geht nicht. Ich mag keine Filme, deren Handlung man einfach nacherzählen kann, also muss ich wohl doch rein. Hoffentlich sitze ich Weihnachten nicht im Krankenhaus, dann könnte ich ihn vielleicht noch sehen. Darauf, dass ich zur Not irgendwann die DVD sehen werde, kann ich ja nicht bauen. Das dauert vielleicht ein halbes Jahr, bis die rauskommt.