Gerade heute fielen mir diese Zeilen in die Hände. Ein werter Freund sprach sie am Trauertag 2014.
Gedicht für Irja. Gebet an das Leben.
Gewiß, so liebt ein Freund den Freund
wie ich dich liebe, rätselvolles Leben!
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben
ich lieb dich mit Deinem Glück und Harme,
und wenn du mich vernichten mußt,
entreiße ich schmerzvoll mich deinem Arme,
gleich wie der Freund der Freundesbrust.
Lou Andreas-Salome
Euer Steffen
Irja Kass
Freedom is just another word for Nothing left to lose. -- Freiheit heißt nur, nichts mehr zu verlieren zu haben. (Janis Joplin) ------- Umkehrschluss: Nichts mehr zu verlieren zu haben kann auch eine Art Freiheit bedeuten. (Irja Kass)
Sonntag, 17. November 2019
Sonntag, 6. September 2015
Irja über Glückskinder und "gutes Jammern" (Irjas Reise nach Berlin, März 2011)
Unsere liebe Irja reiste im März 2011 nach Berlin, um an der dortigen Robert-Blum-Oberschule im Rahmen eines Workshops sich über das heikle Thema Krebs mit jungen Menschen auszutauschen. (das Interview wurde aufgezeichnet und am 03. und 17.04.2011 im Berliner Sender ausgestrahlt) Trotz ihrer Grenzerfahrung in Thailand betonte sie stets ihre Liebe zu Reisen. Denn sie verdanke es dem Reisen, dass sie so lange lebe. Sie mochte immer etwas Neues erleben und nicht ein Leben in der Routine. So war auch die Begegnung mit den Schülern ein bunter Mosaikstein in ihren Reiseerlebnissen. Die Berliner Zeitung SEIN veröffentlichte im April folgend ein Interview mit dem Titel "Nichts mehr zu verlieren" (das Interview war schon in 2011 in diesem Blog verlinkt, dieser Link funktioniert jedoch nicht mehr). Ich selbst dürfte 14 intensive Jahre an Irjas Seite mit vielen, einzigartig schönen Momenten erleben. Mit ihr als fröhliche und lebensmutige Frau (die sie zweifelsohne war) kam es im Dialog nicht selten zwischen Schmunzlern und herzhaften Lachern zu neuen Sichtweisen. Sie war eine überaus clevere und charmante Gesprächspartnerin, ebenso geduldige Zuhörerin. Jetzt müssen wir ohne ihre geistreichen Kommentare über das Alltägliche und die Ereignisse aus aller Welt auskommen und können nur erahnen, wie sie sich wohl darüber geäußert hätte. Ein Fundus bieten die zahlreichen Interviews mit ihr. Hier ist eines davon.
Steffen, 06.09.2015
Seit ihrer Krebsdiagnose sieht Irja Kass das Leben mit neuen Augen. Aber auch den Tod, ihren ständigen Begleiter, lernte sie bei einer Grenzerfahrung 2008 in Thailand völlig neu kennen.
Sie hatte eine letzte Reise in ihr Lieblingsland unternommen, bei der sie acht Tage allein und hilflos in einem Bungalow lag. Wegen eines Hand-Fuß-Syndroms löste sich ihre Haut an mehreren Körperpartien ab. Vor Schmerz, Angst und Einsamkeit, Durst und Hunger verlor sie fast den Verstand und auch ihr Leben.
Als sie es nach unmenschlichen Strapazen endlich nach Hause schaffte, war sie so traumatisiert, dass sie niemandem darüber erzählen konnte. Stattdessen begann sie, das Geschehene niederzuschreiben. Entstanden ist ein offenes, spannendes Buch, das neben der eigentlichen Geschichte neuartige Einblicke in das Gefühlsleben eines todkranken, aber selbstbestimmten Menschen bietet, und den Leser wider Erwarten oftmals sogar zum Lachen bringt. „Das ganze Leben ist so absurd, da weiß ich oft auch nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Warum sollte es dem Leser anders gehen?“ sagt sie selbst dazu. Trotz des morbiden Titels „Tot auf Probe“ geht es in ihrem Buch weniger um den Tod als vielmehr um das Leben, in all seinen Facetten. Ein paar davon erläutert sie im Interview.
Als man dir vor fünf Jahren mitteilte, dass du aller Voraussicht nach in ein paar Monaten nicht mehr leben würdest – hast du in dem Moment Wut auf die Welt gespürt? Was hat sich mit dieser endgültigen Diagnose verändert?
Irja Kass: Wut auf die Welt hatte ich nicht eine Sekunde. Genauso wenig wie ich gefragt habe: Warum ich? Was kann denn die Welt für meinen Krebs? Und selbst wenn sie dafür verantwortlich wäre – was sollte ich machen? Die Welt verklagen – auf dass sie mir mein Leben und meine Gesundheit wiedergibt? Nein, die Welt zu hassen, nur weil man sie bald verlassen muss, während die anderen bleiben dürfen – das halte ich für verrückt.
Bei mir ist das Gegenteil der Fall: Ich fühle mich heute mehr eins mit der Welt als je zuvor, weil ich erkannt habe, dass sie alles ist, was ich habe und je haben werde. Und gleichzeitig werde ich gewissermaßen immer mehr zum staunenden Kind, angesichts der ganzen Wunder, die uns tagtäglich umgeben und oft nicht wahrgenommen werden. Ich bin zwar auch früher nicht gerade mit Tomaten auf den Augen durchs Leben gegangen, aber es berührt mich alles viel mehr noch als früher.
Deine Eltern sind an Krebs gestorben, als du Anfang Zwanzig warst. Erleichtert das deinen Umgang mit dieser Krankheit oder macht es das eher schwerer?
Irja Kass: Gerade weil ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie die liebsten Menschen meines Lebens daran starben – und das war wirklich kein schöner Tod –, war Krebs immer der absolute Horror für mich. Danach hatte ich beschlossen (beziehungsweise einen Wunsch ins Universum geschickt): Ich selbst werde bitte an egal was sterben, nur nicht an Krebs. Leider gehen unsere Wünsche dem Leben oftmals am Allerwertesten vorbei.
Aber man kann ja bekanntlich alles aushalten, was einen nicht umbringt. Bis es tatsächlich soweit ist, gehe ich immer noch meinen eigenen Weg, wenn auch durch ganz andere Landschaften als geplant und mit dieser Krankheit im Huckepack. Und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom Weg ablenken wie früher, weil ich keine Zeit und Kraft mehr für Nebensächlichkeiten habe. Früher habe ich viel Zeit mit Pläneschmieden vergeudet, oftmals irgendwie provisorisch gelebt. Da begriff ich aber mit einem Schlag: Die Theorie ist vorbei, jetzt geht es ums Ganze – um das ganze Leben und den ganzen Tod. Und nichts mehr zu verlieren zu haben verleiht einem ja auch eine gewisse Freiheit.
Wie siehst du den Tod heute?
Irja Kass: Eigentlich hat mich die Aussage: „Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens“ schon immer irritiert. Das sagt man doch immer nur, wenn man vom Tod der anderen spricht, aber für denjenigen, der stirbt, ist Tod eben nicht ein natürlicher Teil des Lebens, sondern vor allem sein Ende. Sterben müssen wir zwar alle, die einen früher, die anderen später. Aber den meisten fällt es schwer, sich damit auseinanderzusetzen. Ich musste und muss es zwangsläufig tun, denn nur so kann ich meine Angst bekämpfen. Ich will auf meinen Tod nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, sondern ihm ins Auge blicken, sonst kann ich nicht leben. Er ist immer da und blickt zurück, aber er beherrscht mich nicht von morgens bis abends.
Durch meine Grenzerfahrung in Thailand habe ich mich allerdings ein wenig mit dem Tod versöhnt. Natürlich freue ich mich nach wie vor nicht auf ihn, aber ich habe gesehen, dass er – wenn er will – noch grausamer sein kann als in meinen kühnsten Phantasien. Und dass er mich nicht fern der Heimat in völliger Isolation, unter unterträglichen Schmerzen, Durst und Hunger, Angst und Verzweiflung ereilt hat, rechne ich ihm hoch an.
Du sagst in deinem Buch: „Reisen verlängert mein Leben. Je mehr ich erlebe, desto mehr lebe ich auch.“ Wie meinst du das?
Irja Kass: Denk doch mal an einen imaginären Museumswächter, der 40 Jahre lang durch die immergleichen Gänge schlurft. Wenn man ihn nach seinem Arbeitsleben fragt, kommt es ihm im Nachhinein vermutlich vor, als wären es vier Monate gewesen, weil nichts passierte. Er hat also 39 seiner 40 Arbeitsjahre gar nicht wirklich gelebt. Ich versuche es umgekehrt zu machen: Aus vier Monaten gefühlte vier Jahre zu zaubern. Dazu begebe ich mich in neue Situationen, und die erlebe ich am einfachsten auf Reisen. Die Situationen müssen nicht immer angenehm sein, wichtig ist nur, dass sich etwas in mir regt. Und wenn man zum Beispiel am Grand Canyon steht, wird es einem klar, welch unglaubliche Ehre es eigentlich ist, an diesem Spiel der gewaltigen Kräfte und Zeiträume der Erde und des Universums teilhaben zu dürfen, und es tut gut, sich manchmal so klein und unbedeutend zu fühlen.
Aber es müssen gar nicht immer große Erlebnisse sein, die einem den Atem stocken lassen vor Glück. Mein letztes, für mich trotzdem gigantisches Erlebnis war letzte Woche, als ich eine Meise, die sich in mein Wohnzimmer verirrt hatte und in dem kleinen Spalt zwischen Wand und Sofa festsaß und vor Angst hechelte, befreien konnte. Ich baute ihr einen Tunnel aus Kissen und Möbeln, damit sie in Panik nicht gegen das Fenster knallte, und schaute ihr nach, wie sie von dannen zog. Sie war glücklich und ich war glücklich, ich hatte nicht nur ihr, sondern auch mein Leben verlängert.
Hat sich dein Umgang mit Menschen geändert? Wie gehen deine Freunde mit dir um?
Irja Kass: Meine Freunde wissen mittlerweile längst, dass mein Name nun weder Krebs noch Tod ist, sondern immer noch Irja, und dass Lachen in meiner Gegenwart nicht nur nicht verboten ist, sondern sogar erwünscht. Das schließt gemeinsames Weinen nicht aus. Aber manchmal gibt es Momente, in denen meine und ihre Welt kollidieren und ich mich plötzlich einsam fühle. Zum Beispiel wollte ich kürzlich mit Freunden ins Kino. Der Film war ausverkauft, da sagte einer: „Dann holen wir uns eben die DVD in einem halben Jahr.“ Ich sagte nichts, um niemandem die Laune zu verderben, dachte aber: „Ja, ihr vielleicht. Ich vermutlich nicht mehr – was weiß ich, was in einem halben Jahr ist und ob ich da noch lebe.“ Oder wenn ich im März eingeladen werde: „Im Juni ist mein Vierzigster, ich akzeptiere kein Nein, du musst kommen!“ Dann sage ich zwar: „Klar komme ich! Freu mich drauf!“ Aber insgeheim denke ich: „Sehe ich auch so, dass ich unbedingt kommen muss. Aber vielleicht bin ich im Juni tot. Oder ich lebe zwar noch, kann aber das Bett nicht mehr verlassen. Aber danke für die Einladung.“
Hast du noch Ziele, besondere Wünsche, die du dir erfüllen möchtest? Was erwartest du noch vom Leben?
Irja Kass: Ich finde, das Leben ist nicht dafür zuständig, unsere Wünsche und Erwartungen zu erfüllen. Wenn man sich vom Leben etwas erwartet, heißt es für mich, dass man eigentlich von sich selbst etwas erwartet und dafür etwas tun muss. Und selbst wenn man sich dafür den Hintern aufreißt, heißt es ja noch lange nicht, dass der Wunsch in Erfüllung geht. Das Leben erfordert eine ziemlich hohe Frustrationstoleranz. Es sei denn, man ist wirklich ein Glückskind. Wobei ich so gut wie alle Menschen für Glückskinder halte, die ein „normales“ Leben führen dürfen – mit Gesundheit, Familie, Kindern, Job, und das auch noch in unserer verwöhnten Hemisphäre. Nur sie selbst halten sich nicht unbedingt für Glückskinder.
Nervt es dich deshalb, wenn diese „Glückskinder“ über Kleinigkeiten jammern?
Irja Kass: Es ist ja nicht so, als ob ich selber niemals jammern würde. Auch ich schimpfe mal übers Wetter und erst im zweiten Moment fällt mir ein: Dafür habe ich gerade überhaupt keine Schmerzen. Also: Mieses Wetter, aber toller Tag! Im Grunde ist Jammern über Kleinigkeiten ein Zeichen für ein gutes Leben, denn das bedeutet, dass man nichts Großes zum Jammern hat. Und ich wünsche jedem Menschen ein gutes Leben, also: gutes Jammern! Schade ist nur, wenn es nicht dadurch ausgeglichen wird, dass man sich über ebenso kleine Dinge freut.
Abgesehen davon bin ich mir nicht mal sicher, ob ich nicht doch sogar selber ein Glückskind bin. Ich weiß, das hört sich verrückt an, weil mein Leben den meisten Menschen schrecklich und kaum lebenswert erscheint. Dabei würde ich (fast) alles tun, um dieses mein Leben noch ein wenig länger führen zu dürfen. Ich habe halt kein anderes. Und ich finde, der alte Spruch hat schon seine Richtigkeit: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Ich schmiede mir mein Glück eben aus Schrott und Altmetall zusammen und sage mir immer wieder: „Träume nicht von rostfreiem Stahl, wenn der für dich sowieso unerreichbar ist.“
Vor drei Jahren lag ich mit Freunden an ihrem Bauernhof auf der Wiese unter einer unbeschreiblichen Sternennacht, wie es sie auch in dünnbesiedelten Gebieten selten gibt. Ich war mir sicher: Einen solchen Sternenhimmel werde ich nie mehr erleben, nur die anderen. Und was war? Ich habe in den Jahren danach noch mehrere außergewöhnliche Sternennächte sogar mit ebendiesen Freunden erlebt. Manchmal kann ich mein Glück nicht fassen.
Steffen, 06.09.2015
Nichts mehr zu verlieren
Irja Kass ist eine fröhliche, lebensmutige Frau, der man kaum ansieht, dass sie todkrank ist. Als sie nach einem überstanden geglaubten Brustkrebs Lebermetastasen bekam, gaben die Ärzte ihr nur noch wenige Monate zu leben. Das war vor fünf Jahren. Jörg Engelsing wollte wissen, was das Leben und die Hoffnung auf Heilung heute für sie bedeutet.Seit ihrer Krebsdiagnose sieht Irja Kass das Leben mit neuen Augen. Aber auch den Tod, ihren ständigen Begleiter, lernte sie bei einer Grenzerfahrung 2008 in Thailand völlig neu kennen.
Sie hatte eine letzte Reise in ihr Lieblingsland unternommen, bei der sie acht Tage allein und hilflos in einem Bungalow lag. Wegen eines Hand-Fuß-Syndroms löste sich ihre Haut an mehreren Körperpartien ab. Vor Schmerz, Angst und Einsamkeit, Durst und Hunger verlor sie fast den Verstand und auch ihr Leben.
Als sie es nach unmenschlichen Strapazen endlich nach Hause schaffte, war sie so traumatisiert, dass sie niemandem darüber erzählen konnte. Stattdessen begann sie, das Geschehene niederzuschreiben. Entstanden ist ein offenes, spannendes Buch, das neben der eigentlichen Geschichte neuartige Einblicke in das Gefühlsleben eines todkranken, aber selbstbestimmten Menschen bietet, und den Leser wider Erwarten oftmals sogar zum Lachen bringt. „Das ganze Leben ist so absurd, da weiß ich oft auch nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Warum sollte es dem Leser anders gehen?“ sagt sie selbst dazu. Trotz des morbiden Titels „Tot auf Probe“ geht es in ihrem Buch weniger um den Tod als vielmehr um das Leben, in all seinen Facetten. Ein paar davon erläutert sie im Interview.
Als man dir vor fünf Jahren mitteilte, dass du aller Voraussicht nach in ein paar Monaten nicht mehr leben würdest – hast du in dem Moment Wut auf die Welt gespürt? Was hat sich mit dieser endgültigen Diagnose verändert?
Irja Kass: Wut auf die Welt hatte ich nicht eine Sekunde. Genauso wenig wie ich gefragt habe: Warum ich? Was kann denn die Welt für meinen Krebs? Und selbst wenn sie dafür verantwortlich wäre – was sollte ich machen? Die Welt verklagen – auf dass sie mir mein Leben und meine Gesundheit wiedergibt? Nein, die Welt zu hassen, nur weil man sie bald verlassen muss, während die anderen bleiben dürfen – das halte ich für verrückt.
Bei mir ist das Gegenteil der Fall: Ich fühle mich heute mehr eins mit der Welt als je zuvor, weil ich erkannt habe, dass sie alles ist, was ich habe und je haben werde. Und gleichzeitig werde ich gewissermaßen immer mehr zum staunenden Kind, angesichts der ganzen Wunder, die uns tagtäglich umgeben und oft nicht wahrgenommen werden. Ich bin zwar auch früher nicht gerade mit Tomaten auf den Augen durchs Leben gegangen, aber es berührt mich alles viel mehr noch als früher.
Deine Eltern sind an Krebs gestorben, als du Anfang Zwanzig warst. Erleichtert das deinen Umgang mit dieser Krankheit oder macht es das eher schwerer?
Irja Kass: Gerade weil ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie die liebsten Menschen meines Lebens daran starben – und das war wirklich kein schöner Tod –, war Krebs immer der absolute Horror für mich. Danach hatte ich beschlossen (beziehungsweise einen Wunsch ins Universum geschickt): Ich selbst werde bitte an egal was sterben, nur nicht an Krebs. Leider gehen unsere Wünsche dem Leben oftmals am Allerwertesten vorbei.
Aber man kann ja bekanntlich alles aushalten, was einen nicht umbringt. Bis es tatsächlich soweit ist, gehe ich immer noch meinen eigenen Weg, wenn auch durch ganz andere Landschaften als geplant und mit dieser Krankheit im Huckepack. Und ich lasse mich nicht mehr so leicht vom Weg ablenken wie früher, weil ich keine Zeit und Kraft mehr für Nebensächlichkeiten habe. Früher habe ich viel Zeit mit Pläneschmieden vergeudet, oftmals irgendwie provisorisch gelebt. Da begriff ich aber mit einem Schlag: Die Theorie ist vorbei, jetzt geht es ums Ganze – um das ganze Leben und den ganzen Tod. Und nichts mehr zu verlieren zu haben verleiht einem ja auch eine gewisse Freiheit.
Wie siehst du den Tod heute?
Irja Kass: Eigentlich hat mich die Aussage: „Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens“ schon immer irritiert. Das sagt man doch immer nur, wenn man vom Tod der anderen spricht, aber für denjenigen, der stirbt, ist Tod eben nicht ein natürlicher Teil des Lebens, sondern vor allem sein Ende. Sterben müssen wir zwar alle, die einen früher, die anderen später. Aber den meisten fällt es schwer, sich damit auseinanderzusetzen. Ich musste und muss es zwangsläufig tun, denn nur so kann ich meine Angst bekämpfen. Ich will auf meinen Tod nicht wie ein Kaninchen auf die Schlange starren, sondern ihm ins Auge blicken, sonst kann ich nicht leben. Er ist immer da und blickt zurück, aber er beherrscht mich nicht von morgens bis abends.
Durch meine Grenzerfahrung in Thailand habe ich mich allerdings ein wenig mit dem Tod versöhnt. Natürlich freue ich mich nach wie vor nicht auf ihn, aber ich habe gesehen, dass er – wenn er will – noch grausamer sein kann als in meinen kühnsten Phantasien. Und dass er mich nicht fern der Heimat in völliger Isolation, unter unterträglichen Schmerzen, Durst und Hunger, Angst und Verzweiflung ereilt hat, rechne ich ihm hoch an.
Du sagst in deinem Buch: „Reisen verlängert mein Leben. Je mehr ich erlebe, desto mehr lebe ich auch.“ Wie meinst du das?
Irja Kass: Denk doch mal an einen imaginären Museumswächter, der 40 Jahre lang durch die immergleichen Gänge schlurft. Wenn man ihn nach seinem Arbeitsleben fragt, kommt es ihm im Nachhinein vermutlich vor, als wären es vier Monate gewesen, weil nichts passierte. Er hat also 39 seiner 40 Arbeitsjahre gar nicht wirklich gelebt. Ich versuche es umgekehrt zu machen: Aus vier Monaten gefühlte vier Jahre zu zaubern. Dazu begebe ich mich in neue Situationen, und die erlebe ich am einfachsten auf Reisen. Die Situationen müssen nicht immer angenehm sein, wichtig ist nur, dass sich etwas in mir regt. Und wenn man zum Beispiel am Grand Canyon steht, wird es einem klar, welch unglaubliche Ehre es eigentlich ist, an diesem Spiel der gewaltigen Kräfte und Zeiträume der Erde und des Universums teilhaben zu dürfen, und es tut gut, sich manchmal so klein und unbedeutend zu fühlen.
Aber es müssen gar nicht immer große Erlebnisse sein, die einem den Atem stocken lassen vor Glück. Mein letztes, für mich trotzdem gigantisches Erlebnis war letzte Woche, als ich eine Meise, die sich in mein Wohnzimmer verirrt hatte und in dem kleinen Spalt zwischen Wand und Sofa festsaß und vor Angst hechelte, befreien konnte. Ich baute ihr einen Tunnel aus Kissen und Möbeln, damit sie in Panik nicht gegen das Fenster knallte, und schaute ihr nach, wie sie von dannen zog. Sie war glücklich und ich war glücklich, ich hatte nicht nur ihr, sondern auch mein Leben verlängert.
Hat sich dein Umgang mit Menschen geändert? Wie gehen deine Freunde mit dir um?
Irja Kass: Meine Freunde wissen mittlerweile längst, dass mein Name nun weder Krebs noch Tod ist, sondern immer noch Irja, und dass Lachen in meiner Gegenwart nicht nur nicht verboten ist, sondern sogar erwünscht. Das schließt gemeinsames Weinen nicht aus. Aber manchmal gibt es Momente, in denen meine und ihre Welt kollidieren und ich mich plötzlich einsam fühle. Zum Beispiel wollte ich kürzlich mit Freunden ins Kino. Der Film war ausverkauft, da sagte einer: „Dann holen wir uns eben die DVD in einem halben Jahr.“ Ich sagte nichts, um niemandem die Laune zu verderben, dachte aber: „Ja, ihr vielleicht. Ich vermutlich nicht mehr – was weiß ich, was in einem halben Jahr ist und ob ich da noch lebe.“ Oder wenn ich im März eingeladen werde: „Im Juni ist mein Vierzigster, ich akzeptiere kein Nein, du musst kommen!“ Dann sage ich zwar: „Klar komme ich! Freu mich drauf!“ Aber insgeheim denke ich: „Sehe ich auch so, dass ich unbedingt kommen muss. Aber vielleicht bin ich im Juni tot. Oder ich lebe zwar noch, kann aber das Bett nicht mehr verlassen. Aber danke für die Einladung.“
Hast du noch Ziele, besondere Wünsche, die du dir erfüllen möchtest? Was erwartest du noch vom Leben?
Irja Kass: Ich finde, das Leben ist nicht dafür zuständig, unsere Wünsche und Erwartungen zu erfüllen. Wenn man sich vom Leben etwas erwartet, heißt es für mich, dass man eigentlich von sich selbst etwas erwartet und dafür etwas tun muss. Und selbst wenn man sich dafür den Hintern aufreißt, heißt es ja noch lange nicht, dass der Wunsch in Erfüllung geht. Das Leben erfordert eine ziemlich hohe Frustrationstoleranz. Es sei denn, man ist wirklich ein Glückskind. Wobei ich so gut wie alle Menschen für Glückskinder halte, die ein „normales“ Leben führen dürfen – mit Gesundheit, Familie, Kindern, Job, und das auch noch in unserer verwöhnten Hemisphäre. Nur sie selbst halten sich nicht unbedingt für Glückskinder.
Nervt es dich deshalb, wenn diese „Glückskinder“ über Kleinigkeiten jammern?
Irja Kass: Es ist ja nicht so, als ob ich selber niemals jammern würde. Auch ich schimpfe mal übers Wetter und erst im zweiten Moment fällt mir ein: Dafür habe ich gerade überhaupt keine Schmerzen. Also: Mieses Wetter, aber toller Tag! Im Grunde ist Jammern über Kleinigkeiten ein Zeichen für ein gutes Leben, denn das bedeutet, dass man nichts Großes zum Jammern hat. Und ich wünsche jedem Menschen ein gutes Leben, also: gutes Jammern! Schade ist nur, wenn es nicht dadurch ausgeglichen wird, dass man sich über ebenso kleine Dinge freut.
Abgesehen davon bin ich mir nicht mal sicher, ob ich nicht doch sogar selber ein Glückskind bin. Ich weiß, das hört sich verrückt an, weil mein Leben den meisten Menschen schrecklich und kaum lebenswert erscheint. Dabei würde ich (fast) alles tun, um dieses mein Leben noch ein wenig länger führen zu dürfen. Ich habe halt kein anderes. Und ich finde, der alte Spruch hat schon seine Richtigkeit: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Ich schmiede mir mein Glück eben aus Schrott und Altmetall zusammen und sage mir immer wieder: „Träume nicht von rostfreiem Stahl, wenn der für dich sowieso unerreichbar ist.“
Vor drei Jahren lag ich mit Freunden an ihrem Bauernhof auf der Wiese unter einer unbeschreiblichen Sternennacht, wie es sie auch in dünnbesiedelten Gebieten selten gibt. Ich war mir sicher: Einen solchen Sternenhimmel werde ich nie mehr erleben, nur die anderen. Und was war? Ich habe in den Jahren danach noch mehrere außergewöhnliche Sternennächte sogar mit ebendiesen Freunden erlebt. Manchmal kann ich mein Glück nicht fassen.
Samstag, 19. Juli 2014
Irjas Baum
Wenn ein
geliebter Mensch für immer geht, ist das eine Tragödie. Es bleibt eine Lücke
zurück, die so nicht mehr zu füllen ist. Das ist uns allen bewusst. Doch das
Gefühl, das sich in uns ausbreitet, ist nicht nur nagende Trauer, sondern
zugleich Resignation vor der Willkür des Lebens. Diese Allmacht des Lebens
führt im ersten Schritt nicht zu einer Art Gleichmut, sondern läßt das Leben
sinnlos erscheinen. Wohl dem der einen tiefen Glauben besitzt. Natürlich
verändern sich in diesem Moment die Lebenswerte. In der Natur mit ihrer
Unschuld und Schönheit findet man Trost und Ruhe. Freunde bieten wichtigen
Halt, doch die eigene Bedeutungslosigkeit in unserem kleinbürgerlichen Leben
wird uns vor Augen geführt, drängt sich auf, zementiert sich im Gedächtnis. Wer
Irja näher kannte, ahnt, welche Leere sie hinterlässt. Sie war
zweifellos eine große Bereicherung für uns, eine kostbare Perle, die wir mitten
unter uns hatten. Unglaublich wie sie uns stets mit Freude und Offenheit
begegnet ist und uns oft zum Nachdenken und Schmunzeln brachte. Sie war ein
außergewöhnlicher Mensch mit einem ausgeprägtem Gespür für die Situation. Ihre
strahlende Aura hat auch während ihrer Krankheit nichts verloren. Sie war ein Phänomen.
In ihren letzten
wachen Stunden saß ich mit ihr lange auf der sonnigen Terrasse. Sie war
klar und hat unentwegt gesprochen. Ihr Lebenswille schien, obwohl körperlich
schon sehr strapaziert, spürbar ungebrochen. Als sich am Spätnachmittag die
Pfarrerin etwas beiläufig zu uns setzte, hat sie auf ihre bekannt ruhige Art
ihr schweres Herz erleichtert (nachdem sie gegenüber der Pfarrerin eingangs
klar stellte, dass sie, wenn überhaupt, eher am buddhistischen Glauben etwas
finde). Als sie so sprach, bemerkte Irja die Lederstiefel der Pfarrerin, lobte
diese und wies dann auf ihre auffälligen Stiefelspitzen hin, die sich gut
eignen, Menschen, die mit dem Gesicht im Matsch liegen, umzudrehen. Wie oft
mußte sie sich mit dem Gesicht im Matsch liegend wieder und wieder aufrichten.
Die abwartende Pfarrerin entgegnete nichts. Was auch. Bei solch einem
Lebensschicksal, das vor rund 25 Jahren mit der Krebskrankheit des Vaters
begann und nie wirklich endete. Auch vom plötzlichen Tod unseres kleinen
Chihuahuas Emili wenige Wochen zuvor wurde sie nicht verschont. Mittlerweile
erkenne ich, dass sie mit erhobenem Kopf in die andere Welt ging. Sie behielt
ihren Stolz und ihre Tapferkeit bis zuletzt, obwohl ihr bewusst war und auch
äußerte, dass ihr nur noch wenige Tage blieben. Es war Freitag der 07.
März.2014. Sie löffelte Vanilleeis mit Kaffee und ich hoffe sehr, der Geschmack
klebte noch lange an ihrem Gaumen. Ein strahlendes Lächeln fiel plötzlich über
ihr Gesicht als die fette Hospizkatze vorbeischlenderte und Irja mit einem
Finger auf sie deutete. An diesem herrlichen Sonnentag rauchte sie fast endlos
Zigaretten und wollte gleich gar nicht mehr ins Zimmer zurück, so sehr genoss
sie das Draußensein bis nach Sonnenuntergang. So scherzte sie, als wir
drei ausgekühlt ins warme Zimmer zurückkamen „hm, jetzt sterbe ich noch an
einer Lungenentzündung“. So war sie, unsere Irja. Stets einen markanten Spruch
auf den Lippen. Kurze Zeit später fiel sie in einen langen, tiefen Schlaf und
wurde nicht mehr wirklich wach. Sie ist wohl mit einem Lächeln von dieser
Welt gegangen, das ist zutiefst tröstlich. Irja hat uns kurz nach Mitternacht
am Neunten März für immer verlassen.
Eine
Freundin mit Erfahrung in der Sterbebegleitung erwähnte Tage später: „Es
gelingt nicht jedem sanft in die andere Welt zu gleiten. Das ist ein Geschenk
an Irja und womöglich ein allerletztes Geschenk von Irja an uns.“
Am
22.März.2014 haben wir unsere liebe Irja im Beisein all unserer Freunde
würdevoll verabschiedet. Eine kleine Tafel an Irjas Baum 595 im FriedWald
Schönbuch erinnert an sie.
Liebe Irja, im Innersten bin ich allein, Du fehlst mir sehr. Wir hatten eine schöne gemeinsame Zeit, auch wenn sie von Widrigkeiten durchsetzt war, wir haben uns immer wieder köstlich amüsiert und rege ausgetauscht, ja das haben wir. Du hast mich für mein weiteres Leben geformt, im Guten. Ich werde Dich nicht vergessen. Im Alltag und unterwegs wirst Du mir immer und immer wieder begegnen. Du hast mir ja so manche Phrase ins Ohr gesetzt. Deine Art von Ohrwurm eben.
In tiefer Verbundenheit, Dein Steffen
Mittwoch, 18. April 2012
Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten
Also, ich habe offiziell keine Knochenmetastasen. Zumindest keine, die man in der CT sieht. Selbst auf den ersten Blick höchstgradig verdächtige Aussagen am Ende des Befundes wie „DD osteosklerotische Metastasen. Knochenszintigramm?“ sollen mich nicht beunruhigen, es ist alles toll, ich könnte mit diesen Knochen boxen. Als ob mir etwas daran liegen würde. Aber gut zu wissen. Und ich werde den Teufel tun, den ganzen Rest übers Internet aufzuschlüsseln wie früher in meinen verbissenen Zeiten, zumal die goldige Zusammenfassung der Arzthelferin dazu lautete: „Sie werden halt langsam alt, da ist das normal“. Ach, wie gerne werde ich alt, würde ich alt. Unter dieser Prämisse liest es sich richtig angenehm: „Ventrale Spondylose der proximalen BWS, rechts dorsal sagittal und koronar abgrenzbare Verdichtungen im 8. BWK“ und so weiter, und so weiter. Beurteilung: zwei ätiologisch unklare Osteosklerosezonen da und da, flächig hier, degenerativ dort, nichts Interessantes. Keine größeren suspekten Läsionen, kein Frakturnachweis. Ich darf boxen. Das ist die Hauptsache.
Bleibt also „nur“ die Leber. Da die Knochen erst mal als Übeltäter ausscheiden und die Tumormarker trotz der neuen Chemo wieder gestiegen sind (statt vier- und fünffach nun fünf- und siebenfach über dem Normbereich), läuft da weiterhin eine Tour de France ab, nach diesen neuen Indizien wohl etwas schneller als durch die neue Chemo erhofft. Vielleicht bin ich noch zu sehr durch den Wind oder verdränge gerade, aber ich habe mir fest vorgenommen, das Wochenende in Schopfloch im Schwarzwald davon nicht verhageln zu lassen, oder wenn, dann nur vom Wetter.
Liebe Freunde sehen, tagsüber hoffentlich in der Sonne Kubb spielen, Feuer machen, Forelle aus dem Teich des Bauern um die Ecke grillen, Musik hören, reden, lesen, abends am Ofen sitzen und Karten oder irgendwas spielen, essen und noch mehr reden. Steffen ist heute auch von Frankfurt runter gefahren (ich bin ja seit Februar Strohwitwe), also ist auch unser dreiköpfiges und achtbeiniges Rudel wieder zusammen. Emili wird morgen voller Wiedererkennungssfreude durch die Wiesen wetzen mit ihren 12 Jahren und sich auf jedem stinkenden Fleck ausgiebig herumwälzen. Was für ein Paradies.
Manchmal beneide ich sie, dass sie nichts von Tod weiß. Aber meistens nicht.
Dienstag, 17. April 2012
Gesundheits- und Befindlichkeitsreport April 2012
Nach mehreren einwandfreien, ach was, geradezu gesund anmutenden, glücklichen, energiegeladenen Wochen hängt das Damoklesschwert nun wieder recht dicht über meinem Kopf, und die Schlinge um den Hals, die zur Absicherung dient für den Fall, dass das Schwert versagt, zieht sich langsam wieder zu.
Trockene Zahlen von vor ein paar Wochen, die man nach einigen Meinungen nicht ernst nehmen soll, die aber in meinem Fall immer zuverlässig die Realität abgebildet haben, bevor sie sichtbar wird: Die Tumormarker sind vier-bis fünffach über der Norm, die HER2/neu-Rezeptoren sogar 14-fach, das heißt, die Antikörper, die ich einnehme oder per Infusion bekomme, haben die Wirkung endgültig verloren. Ich muss sie trotzdem weiter nehmen, um es den bei mir besonders zahlreich vorhandenen Wachstumsrezeptoren (bin dreifach positiv) nicht noch einfacher zu machen, neue Baustellen aufzumachen bzw. alte wiederzubeleben. Im Ultraschall sieht die Leber allerdings nicht schlimm genug aus, um die schlechten Werte zu erklären, weshalb nun die Vermutung besteht, dass die Krebszellen ein anderes Organ befallen haben, die Knochen zum Beispiel. Niedrige Thrombozytenwerte, die nicht von der Therapie herrühren können, sprächen stark dafür. Endgültige Gewissheit gibt die Ganzkörper-CT morgen. Bestätigt sich die Befürchtung, werde ich vermutlich allerdings nicht sonderlich geschockt sein, nur für einige Tage geknickt.
Die Sache hat ja wie immer mehrere Seiten. Einerseits würde es eine neue Ära einleiten: neue Baustelle, neues Unglück. Bisher konnte ich immer sagen: „Nein, nur Leber“. Dann wären es „Leber und Knochen“. Der normale Weg wäre zum Schluss „Leber, Knochen, Lunge und Hirn“. Dass ich seit über sechs Jahren „nur Leber“ bin, ist ein Wunder. Ein noch größeres Wunder als „nur Leber“ ist allerdings „sechs Jahre“. Damals sahen ja schon sechs Monate reichlich optimistisch kalkuliert aus, so rasant und aggressiv wie sich meine individuellen Krebszellen vermehrten – als hätten sie einen Wettbewerb zu bestehen. Bei Tour de France, habe ich mir sagen lassen, ist es auch oft so, dass der, der am schnellsten und eifrigsten vorprescht, zum Schluss keuchend hinter die anderen zurückfällt. Meine Zellen haben die Sache wohl zu hemdsärmelig und großkotzig angegangen, weil sie angesichts ihrer zahlreichen Möglichkeiten mit mir ein besonders leichtes Spiel zu haben glaubten. Das haben sie jetzt davon: Ich lebe immer noch, während viele andere Krebskranke mit viel besserer Prognose es schon lange nicht mehr tun. Ihre Krebszellen haben sich wohl mit Bedacht vermehrt und nicht einfach im Höchsttempo in jede Kerbe geschlagen, die sie finden konnten.
Und wenn es jetzt die Knochen sind, erweitert sich zwar die Palette der Probleme, Beschwerden und Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen haben werde. Andererseits wird mich mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso die Leber dahinraffen und nicht die Knochen, Lebermetastasen sind bekanntlich am schnellsten, und meine, wenn sie in Fahrt sind und ihnen kein Einhalt geboten werden kann, preschen dann wieder vor wie Berserker. Irgendwann wird ihr dummer Eifer schon noch belohnt werden. Knochen können ganz schön Schmerzen machen, die Leber eher nur Druck und Unwohlsein, zumindest anfangs. Allerdings vergiftet eine versagende Leber den gesamten Organismus, man stirbt letztlich eben durch die Vergiftung oder innere Blutungen (letzteres soll angenehmer sein), während die Knochen „kein lebenswichtiges Organ“ sind, sie können im schlimmsten Fall nur brechen. Je nach der Stelle (Wirbelsäule) auch nicht begrüßenswert. Aber da gibt es altbewährte Mittel, Zometa, Bestrahlung, was weiß ich. Knochen sind unter ferner liefen. Die Leber gilt es zu behätscheln und bei Laune zu halten.
So befinde ich mich momentan selber in einer Art Tour de France, laufe Wette mit der Zeit und meinen Mitkonkurrenten, den Metastasen, die allerdings am längeren Hebel sitzen und wesentlich besser dopen als ich. Es gilt wirklich, durchzuhalten, um jeden Preis. Machen Sie das mal mit einem klapprigen Fahrrad, bei dem man in jeder Kurve die Kette neu aufziehen muss, während der andere das Rennrad seiner Wahl fährt, gesponsert durch MEINE (!) Her2/neu- und vermutlich noch andere Rezeptoren. Der Gegner lebt also von den großzügigen Angeboten in meinem Stall (oder sagt man „Stall“ nur bei Formel 1 und nicht bei denen, die mit Fahrrad unterwegs sind und beim Reifenwechsel keine vier oder acht Menschen brauchen? Haben die gar keinen Stall, die Armen? Oh Gott, bin ich unwissend. Aber ich interessiere mich so verdammt wenig für Hochleistungssport, für Geschwindigkeit und für Millimeter, mit denen ein Mensch einen anderen Menschen übertrifft, ich Banause. Trotzdem sei mir bitte der Vergleich mit denen erlaubt. Denn ich fahre. Ich fahre, ich eiere, gebe aber nicht auf und ziehe einfach immer die Kette neu auf. Ich schrecke auch nicht vor unlauteren Mitteln zurück – Bein stellen, Gift in meinen Organismus einschleusen, mein Immunsystem aufrechterhalten, nicht durch Pillen, sondern positive Einstellung, oder, weil mich dieser Begriff mittlerweile nervt, durch möglichst oft gute Laune haben. Herbeigeführt durch alles Mögliche, was mir Krebs nicht nehmen kann.
Während bei meinen Metastasen auf der Zielfahne „Irjas Tod“ steht, steht auf meiner: „Neue vielversprechende Studie“. Es gibt nämlich ein neues Mittel Pertuzumab, die für Unsereins mit diesen verfluchten HER2-neu-Rezeptoren in Frage kommt (ca. ein Viertel aller Patienten), das aber noch nicht zugelassen ist. Heißt: man kommt zurzeit aufs Verrecken nicht dran, es wird noch nicht mal produziert, also kann ich auch nirgends im entsprechenden Lager einbrechen (Witz natürlich, bin doch nicht kriminell). Und wie man Moleküle klaut, weiß ich nicht (auch Witz natürlich; beziehungsweise kein Witz: ich weiß es wirklich nicht).
Da mein Arzt große Stücke darauf hält und die Studienergebnisse wirklich ermutigend sind (durchschnittlich 6,1 Monate mehr Lebenszeit - ein halbes Jahr, Leute!), habe ich jetzt ein Ziel vor den Augen: mich durchschleppen, bis diese Ambrosia erstmalig durch meine Adern fließt. Ob das Mittel mir hilft, weiß keiner, aber da mein Krebs so unheimlich schlau oder zumindest flexibel und vom Angebot her breit aufgestellt ist, kann ich mir gut vorstellen, dass sie hilft. Das ist kein Widerspruch, denn bisher war es meistens so: Egal was man mir gab, es schlug meist an – mein Krebs hatte so viele verschiedene Verbreitungskanäle und Entwicklungsvarianten, dass man auch auf gut Glück immer irgendeinen Versorgungskanal oder eine Produktionsstätte für eine kurze oder auch durchaus längere Weile aushöhlen konnte, wie bei einer Razzia ins Blaue hinein.
Dieses Pertuzumab ist eigentlich gar kein Unbekannter für mich, mein Arzt und ich reden schon seit ein paar Monaten davon, aber ich habe es nicht in mein Leben gelassen, weil ich es schlecht aushalten kann, wenn ich kurz vor der Zulassung abkratzen sollte. Und ich bin ja bekannt dafür, Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Oder auch nicht kommen. Mit Herceptin war es genau so: Ich wäre prädestiniert dafür gewesen, aber damals gab man es nur bei Metastasen. Die Studien zeigten längst eine enorme Wirkung bei der Vermeidung oder Hinauszögern von Metastasen nach der Erstdiagnose, aber erst mutige und durchsetzungsfähige Patienten erstritten sich vor Gericht den Anspruch darauf von der Krankenkasse. Nun kriegt es jeder, auch ohne Metastasen, weil der Nutzen so eindeutig ist. Für mich kam es zu spät. Ich bekam es erst, als der Krebs bereits gestreut hatte.
Nachdem allein die Antragsstellung für die Zulassung von Pertuzumab mehrmals verschoben wurde und ich weiß, wie zäh diese Prozesse sind, habe ich mich gar nicht groß mit der Sache abgegeben. Die Trauben hingen zu hoch. Die aktuelle Info ist, dass es im November so weit sein könnte. November – eine Ewigkeit entfernt. Und dann wird es doch Mai 2013, und dann Oktober 2013, oder „durch eine kleine Verzögerung doch eher Frühjahr 2014“. Nein, die Trauben hängen immer noch zu hoch. Aber ich springe trotzdem, augenscheinlich beiläufig, in Wirklichkeit wie ein Blöder, bis mir die Luft endgültig wegbleibt. Nur will ich auf diesen Silberstreifen am Horizont nicht mein Leben ausrichten. Vielleicht ist es ein Fatamorgana für mich. Und wird erst für andere Realität.
Momentan bekomme ich neben dem Üblichen noch Abraxane. Der Plan war, es am Tag 1, 8 und 21 zu geben, das funktioniert aber nicht, weil dadurch die Thrombozyten und einiges mehr tatsächlich auf begründete Weise in den Keller rauschen. Dieses Taxol (der Wirkstoff bei beiden ist Paclitaxel) habe ich vor 3,5 Jahren schon bekommen, war leider nur für kurze Zeit erfolgreich. Aber jetzt soll es wenigstens besser verpackt (albumingebunden) und dadurch besser verträglich sein (kann ich aufgrund von den beiden bisher erhaltenen Gaben bestätigen), wodurch man auch höhere Dosen verabreichen kann. Ob und was das bringt, wissen wir noch nicht. Die Haare fallen dann wohl wieder aus, aber das, was ich da auf dem Kopf habe, sieht eh nach einem Orang-Utan-Baby oder einer verrückten alten Frau aus. Also verrückt, wenn sie so auf die Straße geht. Ich tue es nicht. Verlust daher eher irrelevant.
Haare sind generell irrelevant. Relevant ist, wie lange ich mit diesem Abraxane durchhalte und was danach kommt, um noch länger durchzuhalten, bis dieses verdammte, von mir mit Vorschusslorbeeren komplett bedeckte Pertuzumab eine Zulassung kriegt. Ich sehe vor meinem geistigen, allerdings im Pharmasachbearbeitungsmetier völlig unbewanderten Auge, wie die Akten mit der Überschrift „Zulassungsantrag Pertuzumab“ in einem Regal ganz oben verstauben, oder in einem Stapel ganz unten, bis sich ein dafür zuständiger Beamter langsam durch die oberen Sedimentschichten gearbeitet hat und Sandwich kauend murmelt: „Die übliche Überprüfungsfrist läuft langsam ab, die Kommission muss jetzt wirklich bald, also in den nächsten Monaten, jedenfalls in diesem oder nächsten Halbjahr, einen gemeinsamen Termin ins Lotus reinstellen, um zu entscheiden, ob der Antrag angenommen wird und überhaupt einer Prüfung unterzogen werden soll. Ach so, die haben sogar einen Eilantrag gestellt ob der guten Studienergebnisse. Ich schaue mal, vielleicht schreibe ich in den nächsten Wochwen eine Rundmail, oder so. Ach nee, da habe ich ja Urlaub, und danach ist der Vorsitzende zwei Monate auf Vortragsreise, und dann kommt sowieso erst mal die große alljährliche Krebskonferenz, ich habe also Zeit mit der Rundmail. Früher haben die aber mehr Mayonnaise in den Sandwich getan, ist bisschen trocken...“
Donnerstag, 1. März 2012
Kommentare
Ich bekomme immer wieder Mails mit ungefähr folgendem Inhalt: „Ich habe getan und gemacht, habe gerade mühsam einen langen Kommentar geschrieben und mehrmals versucht, ihn reinzustellen, aber das klappt nicht. Da werden Sachen von mir verlangt, die ich nicht erfüllen kann oder wo ich nicht weiß, was das überhaupt sein soll (zum Beispiel ein Google-Konto?). Ich gebe jetzt endgültig auf und schreibe Ihnen/Dir stattdessen eine Mail.“
So sehr ich mich dann immer über die Mail, die vermutlich sogar länger und persönlicher als der verhinderte Kommentar ist, gefreut habe, so sehr habe ich mich auch über den Bloganbieter geärgert: „Ja genau, sonst überall schön meine Daten abgreifen, aber wenn die netten, rechtschaffenen Leute sich mal in meinem Blog äußern wollen, dann schön blockieren, so dass entweder nur die hartnäckigsten durchkommen oder nur die, die bei euch, ihr Halsabschneider, irgendein Konto oder was haben. Unverschämtheit! Ich gehe rüber zu Wordpress mit meinem Blog.“ Das „Rübergehen“ scheitert dann daran, dass ich keine Lust habe, die Prozedere mit dem Blogerstellen woanders nochmal durchzumachen. Obwohl es wohl nicht viel mehr verlangt als ein paar Daten beim neuen und einen Link „Ich bin hierhin umgezogen“ beim alten Blog, so zumindest meine Vorstellung. Packe ich aber irgendwie nicht - nervt mich, kostet Zeit, die mich nervt und die mir von Nichtnervigem abgeht.
Deshalb habe ich den Leuten immer in einem persönlichen Antwortschreiben gesagt: „Das tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, warum das nicht klappt. Ich blockiere niemanden, ganz im Gegenteil, alle Kommentare sind willkommen. Aber eine Mail ist ja auch schön, vielen Dank dafür. Und wenn ich mein Blog zu einem anderen Anbieter (Wordpress oder so, muss mich mal kundig machen, was es alles gibt) rüberziehe, dann klappen sicher auch die Kommentare.“
Nachdem ich gestern sogar drei Briefe dieser Art bekam, war Blogspot allerdings wirklich fällig. So konnte es doch nicht weitergehen, denn die Dunkelziffer kenne ich ja nicht mal: Wer weiß, wer alles schon kommentieren wollte, es nicht konnte, sich ärgerte und mir auch nicht mailte, dass er es nicht konnte. Und meinem Blog aufgrund solch vermeintlich elitären Gehabes für immer den Rücken kehrte. Ich fing also ernsthaft an, nach anderen kostenlosen Blogportalen herumzusurfen. Kostenlos nicht nur, weil es nichts kostet, sondern auch, weil ansonsten jemand (mein Mann) das nach meinem Tod weiterbezahlen müsste. Wäre zumindest eine Schererei mit Kontoummeldung und so, aber die kostenlosen gehen ja auch, ich betreibe ja keine anspruchsvolle Seite mit Schnickschnack.
Jetzt… Nun ja, wie soll ich sagen… Ich war mal in meinen Einstellungen drin – wahrscheinlich zum ersten Mal, seit ich dieses Blog betreibe –, und, khm, mir ist da etwas aufgefallen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das sagen soll… Ich habe da aus mir unerklärlichen Gründen ein Häkchen, das die Kommentarfunktion einschränkt und nur registrierte Nutzer zulässt. Aber ich war es nicht. Ich verdächtige da Kobolde. Und wenn ich es war, dann könnte höchstens sein, dass ich eine Schlafwandlerin bin und nicht weiß, was ich nächtens an meinem Computer treibe. Da ich bislang allerdings nicht durchs Nachtwandeln aufgefallen bin, denke ich eher, es waren doch Kobolde. Oder die CIA.
Jedenfalls habe ich das Häkchen weggemacht, und wenn nicht irgendwelche Gestalten es heute Nacht wieder reintun, kann in Zukunft jeder nach Herzenslust kommentieren. Ich antworte zwar vielleicht nicht immer, auch deshalb, weil mir oft nicht mehr einfällt als „Was für ein schöner Kommentar“ oder „Vielen Dank“, und das ist ja auf Dauer etwas einfältig. Aber ein warmes Lächeln und ein innerlich geflüstertes „Dankeschön“ sind Euch in jedem Fall sicher.
Dienstag, 21. Februar 2012
Die Rückkehr des Hungers
Das Frieren kannte ich so noch nicht. Ich war selbst mit acht Kleiderschichten und einer Daunendecke in einer völlig überheizten Wohnung nicht in der Lage, eine einigermaßen komfortable Körpertemperatur herzustellen, so dass ich wie ein poikilothermes Lebewesen tagelang weitgehend in einer einmal eingenommenen Position verharrte. Mit dem Unterschied, dass Wechselblüter durch eine externe Wärmequelle irgendwann mal warm werden. Ich wurde nicht warm. Es herrschte Stillstand. Die Körperfunktionen waren auch abseits der Eigenwärme so reduziert, dass „Tod durch Entkräftung“ für mich mittlerweile nicht mehr abstrakt ist, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie so etwas abläuft. So ähnlich könnte in der Tat auch meine Endphase aussehen.
Ich nahm immer weiter ab, wog wohl nicht mehr als 40 Kilo, aber wenn man das Gefühl hat, da schwappt noch der Speisebrei von vor drei Tagen im Magen herum, mutet sich eine Nahrungsaufnahme wie ein lieber zu vermeidender Gewaltakt an. (Wie ich das Thai-Curry zu Silvester gekocht habe, weiß ich nicht. Ich habe sogar in der Tat davon gegessen und musste sagen: Hervorragend gelungen. Aber nach dem Kochen war ich fertig, als hätte ich zwölf Hektar Land mit einem altersschwachen Ochsen und Kind auf dem Rücken umgepflügt. Also ohne Ochsen auf dem Rücken, nur mit einem Kind, aber trotzdem.) Sogar ein Pickel in meinem Gesicht blieb tage- und wochenlang in demselben Zustand, wurde weder schlimmer noch besser. Stillstand eben, auf allen Fronten. Medizinisch betrachtet wohl alles recht bedenklich (ich meine jetzt natürlich nicht den Pickel), aber ich wusste, dass es nur eine Phase ist, dass das Ende noch nicht da sein kann, dass ich das Dahinvegetieren mit einem entschlossenen Aufbäumen beenden könnte, zwar nicht auf einen Schlag, aber peu à peu. Nur hatte ich keine Kraft und auch keine große Lust mich aufzubäumen, es war mir egal.
Am bedenklichsten fand ich allerdings die Tatsache, dass ich bei Menschen im Fernsehen oder auch in Echt nicht vorrangig daran dachte, wie sie leben oder gelebt haben, sondern wie sie gestorben sind oder sterben werden. So habe ich immer schon auch bei den wegen der beschleunigten Bewegungen etwas grotesk wirkenden, stummen Aufnahmen aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts gedacht: „Alle, die ich dort gerade sehe, sind tot. Alle. Ohne Ausnahme.“ Nun kam ich mir selbst vor wie eine dieser Figuren, nur dass ich mich kaum bewegte, geschweige denn einen Tick zu schnell. So ähnlich fühlte ich mich in den wattetauben Tagen nach der Diagnose, als ich mal aus irgendeinem Grund in dem hiesigen Einkaufszentrum wandelte und dachte: „Ihr wisst es nicht, aber ich bin nur ein Geist“. Gesteigert wurden diese Gedanken in besonders schlimmen Momenten noch durch Einwürfe wie: „Wir sind alle verloren, alle miteinander. Niemand kann mir helfen, niemand kann irgendjemandem helfen. Was kann ein Würmchen schon ausrichten, um ein anderes Würmchen zu retten? Nichts.“
In diesem geistigen und körperlichen Zustand trat ich meine Reise nach Bali an. Aus dem Krankenbett ins Flugzeug steigen und mit den verbliebenen 100 Gramm Muskeln mehr als 24 qualvolle Stunden lang ans andere Ende der Welt reisen – ja, was soll man dazu sagen. (Aber es soll ja auch Leute geben, die fliegen ohne Haut am Körper um die Welt, siehe „Tot auf Probe“.) Eigentlich hätten wir auch gleich nach Australien, dem Inbegriff vom „anderen Ende der Welt“ fliegen können, es hätte sich nichts genommen. Schon als Steffen und ich im Morgengrauen ins eiskalte Auto stiegen, um zum Flughafen zu fahren, dachte ich: „Was mache ich da bloß wieder?“ Und dieser Gedanke tauchte fortan mehrmals stündlich auf. Kein Mensch, geschweige denn ein Mediziner, hätte mich hinfliegen lassen, hätte er mich vor dem Einsteigen live erlebt. Ich musste beim Check-in mich mit beiden Händen an der Theke festhalten und mich doch zwischendurch auf den Koffer setzen. Noch nie hat ein Beamter in der Passkontrolle so lange abwechselnd mein Foto und mich angestarrt. Irgendwann glaubte er aber wohl immerhin, dass ich nicht unter falschem Namen reise. Vermutlich hielt er mich für einen langjährigen Junkie. Da es aber kein Gesetz gibt, das Junkies das Reisen explizit verbietet, ließ er mich letztlich ohne eine einzige Frage durch.
Während Steffen und ich 12 Stunden lang auf der ersten Strecke nach Kuala Lumpur ironischerweise ausgerechnet auf den allerletzten Plätzen saßen, die man nicht verstellen kann, dachte ich: „Wenn ich aus dieser Sache ohne eine Lungenembolie rauskomme... Vielleicht gehe ich sehenden Auges in meinen Tod und die anderen Fluggäste müssen leider einen Teil der Strecke mit meiner am Sitz festgebundenen verdeckten Leiche verbringen“ (so profan kann es laufen, wenn der Flug komplett ausgebucht ist und die Geschichte von dem, der angeblich stundenlang zwei Reihen hinter einer Leiche saß, stimmt). Ich besaß kein adäquates Zeitgefühl und schaute deshalb nicht mehr auf dem Display nach, wo wir sind. Wenn ich dachte, wir seien irgendwo über Indien oder zumindest Afghanistan, hatten wir noch nicht mal Wien erreicht. Falls man aufgrund einer langen Liegezeit nicht mehr weiß, wie man eigentlich aufrecht sitzt und seinen Sitz nicht mal fünf Zentimeter nach hinten stellen kann, kann der Verzicht auf Distanzkontrolle sinnvoll sein, es reduziert die Verzweiflungsmomente.
Der zweite Flug von Kuala Lumpur nach Denpasar, Bali verlief in Resignation und Apathie, ich habe auch nicht mehr wie sonst immer gedacht: „Wenn wir abstürzen, dann bitte auf dem Rückflug, dann habe ich wenigstens vorher was erlebt“. Mir war es egal, ob wir abstürzen, auch im Bewusstsein, dass es so dahingedacht ist und dass ich im Ernstfall wie alle anderen nach der Sauerstoffmaske greifen würde. Ich wollte nichts mehr, ich wollte auch nicht nach Bali, ich wollte ein Bett. Das hatte ich zu Hause gehabt, also dachte ich mal wieder: „Warum bin ich bloß hier?“.
Während wir auch noch drei Stunden lang in einem Taxi von Denpasar ans andere Ende der Insel gondelten, wusste ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte. Selbst Steffen, der Gesunde von uns beiden, sagte: „Ich bin am Ende. Wir sind bescheuert. Warum konnten wir uns nicht was Näheres aussuchen.“
Diese mühsame 24-stündige Anreise hat nicht meine Reserven aufgebraucht – ich hatte schon vorher keine. Ich habe es komplett aus der Substanz gemacht. Aber manchmal muss man wohl in Vorleistung gehen, indem man die eigene Substanz als Pfand hergibt. Und man erhält dafür zunächst nichts als eine Verheißung, eine Hoffnung. Man weiß nicht, ob es ein Fiasko wird oder ob man sein Pfand doppelt zurückbekommt.
Ich bekam mein Pfand zehnfach zurück. Es war wie eine Ohrfeige für den Ohnmächtigen. Ich erwachte schlagartig zum Leben. Und mein Körper überraschte mich schon wieder. Ich entwickelte im Handumdrehen einen nie dagewesenen Hunger. Es wäre nicht falsch zu behaupten: einen Hunger nach Leben. Das wäre zudem schön und nur ein bisschen pathetisch. Aber in erster Linie ging es mir doch ums Essen. Ich futterte mehr als Steffen, ich wachte sogar nachts auf und aß schnell und konzentriert ganze Schachteln Kekse und jegliches herumliegende Obst, bis nichts mehr da war. Eines Nachts ging ich vor Hunger sogar auf die Suche nach den Bananenbäumen im Garten, von denen die Bananen am Vortag angeblich stammten. Die waren abgeerntet, der Rest zu klein, und ich wartete sehnsüchtig auf den Morgen, um wieder irgendetwas essen zu können. Ich hortete Keksschachteln, um nachts versorgt zu sein, falls ich aufwache. Ich dachte fast nur ans Essen und kannte nur zwei Zustände: einen unbändigen Hunger oder ein wahnsinniges Völlegefühl. Und doch war es herrlich. Nicht gerade normal, aber herrlich. Mein Körper hatte wohl gedacht, er würde tatsächlich verhungern, es käme nichts mehr, nie mehr – und dann plötzlich das! Natürlich nimmt man da alles, was man kriegt, und am liebsten noch mehr.
Die Schönheit des Landes, in dem ich angekommen war, hat mich zunächst nur gestreift. Ich fand es lieblich, angenehm, aber sie berauschte mich nicht, ich war zu beschäftigt mit mir selbst, auch wenn ich noch nie in Indonesien war. Aber ich war mir nicht böse – erst das Brot, dann die Spiele.
Das Bedürfnis nach Essen blieb allgegenwärtig und ich spürte förmlich, wie die Knochen millimeterweise wieder von Fleisch bedeckt wurden. Und ich erkannte, was für ein Glück es war, dass ich verrückt genug war, etwas auf mich zu nehmen, wovon mir fast jeder vernünftige Mensch abgeraten hätte, geschweige denn es selbst zu unternehmen. Es gab allerdings genug Situationen, in denen ich abermals dachte: „Was mache ich hier bloß wieder?“ Das war der Fall, als ich mit einem Hotelbediensteten auf dem Mofa eine Höllenfahrt über Stock und Stein im Jungle mitmachte, weil wir wieder mal ganz was Abgelegenes gebucht hatten. (Machen Sie das mal auf dünnen Knochen und mit postoperativen Verwachsungen in der Leber, die gemeinsam mit dem Mageninhalt herumhüpfen.) Oder als ich anderthalb Stunden auf einem Kahn ohne Sitzgelegenheit bzw. auf einer Art Hühnerstange verbrachte – für jemanden mit wenig Kraft und schmerzenden Knochen nicht so einfach zu bewältigen. Aber es ist zu bewältigen. (Dass es nichts zum Sitzen gab, hatte damit zu tun, dass man uns statt der versprochenen Fähre ein Frachtgutboot gab – friss oder stirb.)
Ich habe schon viele aufregende Bootsfahrten in meinem Leben mitgemacht, auf die manche Menschen gern verzichtet hätten, aber als wir von der kleinen Insel, die einer anderen kleinen Insel vorgelagert war, zurück aufs Festland fuhren, schien das uralte Miniboot dem Meer tatsächlich hilflos ausgeliefert zu sein, zumindest waren die Menschen im Boot dem halbwahnsinnigen Bootsführer hilflos ausgeliefert. Während selbst Steffen langsam bleich um die Nase wurde, grinste und ich muss gestehen, sogar jaulte ich jedes Mal etwas kindisch auf, als mein Hintern den Kontakt zu dem Sitz verlor, obwohl ich genau wusste, dass die anschließende Landung sich anmuten würde wie ein Aufschlag auf einen harten Holzboden. (Das wusste ich vom Meer gar nicht – dass es sich manchmal verhält, als sei es aus Holz, oder noch eher Zement . Wieder was gelernt.) Auf dem Festland angekommen, war ich völlig durchnässt und musste mich vor der Weiterfahrt hinter ein Auto gebückt komplett umziehen, weil ich in einer vom Personal nicht so gut kalkulierten Wellenphase zum hurtigen Sprung ins Wasser abkommandiert wurde. Als man einsah, dass es ein Fehler gewesen war, rief man mir nur: „Run! Run!“ Nicht so einfach, wenn die Füße im Sand versinken und man wenig Kraft hat, zumindest im Vergleich zu tobenden Wellen. Aber herrlich, wenn man es überlebt.
Selbsterwählter Zwang bringt zumindest bei mir einiges in Gang. Sich vor vollendete Tatsachen stellen, sich etwas völlig anderem ausliefern als dem, was zu Hause oft genug die Bedingungen diktiert – nach der profansten Definition ist das zumindest Abwechslung. Und wenn man eine paradiesische Insel kennenlernen will, muss man gegebenenfalls vorher eben ein paar Höllenfahrten über sich ergehen lassen.
Zum Meer habe ich eine recht spezielle, ambivalente Beziehung, aber darüber habe ich schon in meinem Buch berichtet. Ich laufe ihm hinterher, seit ich es verloren habe. Und Steffen liebt das Tauchen. (Von mir bleibt die phantastische, magische Unterwasserwelt wegen meiner dicken Krankenakte für immer unentdeckt, worüber ich fast heulen könnte.) Deshalb verbrachten wir mehr als die Hälfte unserer dreieinhalb Wochen an verschiedenen Küsten und acht Tage davon blieben wir sogar auf einer einzigen Insel. Das Gesicht des Meeres war aufgrund der instabilen Wetterlage (es war ja Regenzeit) jeden Tag neu, das der Strandes ebenso, eines morgens begrüßte uns sogar ein über Nacht entstandener und recht reißender Fluss, der vom Dorf quer ins Meer lief und uns nicht mehr trockenen Fußes zum Restaurant ließ (wer aber permanenten Hunger hat, der watet gern).
Hätte mir einer vor der Reise gesagt: Für das Privileg, direkt auf dem Strand zu wohnen musst du nachts dreimal eine steile Treppe, eher eine Hühnerleiter herunterklettern, um auf die Toilette zu kommen (meine Nieren fingen wohl auch erst auf Bali an, wieder besser zu funktionieren) und dich mit kaltem Wasser duschen – ich hätte gesagt: „Na, das wollen wir sehen, das in meinem Zustand – sind Sie verrückt? Ich friere sowieso schon und brauche zumindest eine behindertengerechte, ebenerdige Wohnung, keine Hühnerleiter.“ Aber siehe da – ich habe es überlebt. Die Treppe hat mir sicherlich geholfen, ein-zwei Muskeln aufzubauen und Steffens Äußerungen zu der kühlen Außendusche unter freiem Himmel - „Stell dich nicht so an, das ist erfrischend“ - fand ich mit der Zeit gar nicht mehr so anmaßend und realitätsfern.
Die Wärme der tropischen Luft und die Wärme in mir, die sich schlagartig von selbst regulierte, nachdem ich zum Leben erwacht war, spüre ich jetzt noch, Wochen später. Während ich dies schreibe, ist mir, als würde ich gerade zusammen mit den Geckos und Grillen in meinem schwarz-rosa beblümten Wickelrock vor der Hütte sitzen und die blinkenden Bootslichter im schwarzen Wasser schillern sehen. All das, was Bali ausmacht beziehungsweise weshalb man als Normaltourist hingeht - die grünen Reisterrassen, die beeindruckenden Tempel und Tempeltänze, die wilde und die domestizierte Küste mit dem schwarzen oder weißen Sand, die Regenwälder und die vulkanischen und nichtvulkanischen Berge, die berühmte Handwerkskunst, die Herzlichkeit der Menschen, besonders im Hinterland, die unterschwellige Mystik, die unsichtbar wie die Neutrinos das ganze Alltagsleben durchdringt, die Sonne, auch wenn sie meist entweder milchig-weiß oder hinter den dunklen Wolken gar nicht lokalisierbar war, (den manchmal apokalyptisch anmutenden Regen lasse ich jetzt mal weg, weil man seinetwegen selten extra 13.000 km weit reist), die Tiere und die Vögel, die Schmetterlinge und die Blumen, und den ganzen Rest an Schönheit, den ich zu erwähnen vergesse – all das haben auch meine Augen gesehen, aber darüber gibt es so viele Bilder, Reportagen und Schilderungen, dass meine überflüssig sind. Außerdem hat meine Seele all dies nur leise, nebenbei und fast heimlich aufgenommen, sie hatte wohl kapiert, dass diesmal der Körper die erste Geige spielte, dass wir auf der Maslowschen Bedürfnispyramide erst auf den unteren Stufen herumkrabbelten und ich deshalb jeden atemberaubenden Sonnenuntergang gegen eine zünftige indonesische Mahlzeit eingetauscht hätte. Aber aufgenommen hat sie es. Während ich zu Hause in der Zeit mittlerweile nur bis zum Briefkasten gekommen wäre. Und das vermutlich auch noch als Fortschritt bezeichnet hätte. Niemals wäre ich zu Hause so schnell wieder auf die Beine gekommen, im direkten und übertragenen Sinn.
Fazit: Ich würde es wieder tun, und hoffentlich bekomme ich sogar noch Gelegenheit dazu, auch wenn ich mich jetzt erst mal finanziell etwas ruiniert habe und die nächste Reise warten muss. So lange zehre ich von dieser. Jedenfalls: Schonhaltung ist nicht gesund. Permanente Schmerzvermeidung kennt man schon von Zuhause, das halbe Leben ist darauf ausgerichtet, zumal wenn man krank ist. Aber Schmerzvermeidung ist kein Lebenskonzept, Schonhaltung lässt keine Erlebnisse zu. Leben aber besteht nun mal aus Erlebnissen. Und Ungewissheit gehört dazu, es ist geradezu eine Grundvoraussetzung, wenn man sich lebendig fühlen will. Wie viel Energie man darauf verschwendet, eine vermeintliche Sicherheit herzustellen oder aufrechtzuerhalten, also ebendiese Ungewissheit auszuschalten! Das ist ja, als würde man versuchen, das Leben auszuschalten. Ich versuche daran zu denken, wenn ich das nächste Mal bei Nacht und Nebel auf dem Weg zum Flughafen bin und mich frage: „Was mache ich hier bloß?“
Ich esse übrigens immer noch wie ein Scheunendrescher. Es ist jetzt wohl doch der Hunger nach Leben.
Ich nahm immer weiter ab, wog wohl nicht mehr als 40 Kilo, aber wenn man das Gefühl hat, da schwappt noch der Speisebrei von vor drei Tagen im Magen herum, mutet sich eine Nahrungsaufnahme wie ein lieber zu vermeidender Gewaltakt an. (Wie ich das Thai-Curry zu Silvester gekocht habe, weiß ich nicht. Ich habe sogar in der Tat davon gegessen und musste sagen: Hervorragend gelungen. Aber nach dem Kochen war ich fertig, als hätte ich zwölf Hektar Land mit einem altersschwachen Ochsen und Kind auf dem Rücken umgepflügt. Also ohne Ochsen auf dem Rücken, nur mit einem Kind, aber trotzdem.) Sogar ein Pickel in meinem Gesicht blieb tage- und wochenlang in demselben Zustand, wurde weder schlimmer noch besser. Stillstand eben, auf allen Fronten. Medizinisch betrachtet wohl alles recht bedenklich (ich meine jetzt natürlich nicht den Pickel), aber ich wusste, dass es nur eine Phase ist, dass das Ende noch nicht da sein kann, dass ich das Dahinvegetieren mit einem entschlossenen Aufbäumen beenden könnte, zwar nicht auf einen Schlag, aber peu à peu. Nur hatte ich keine Kraft und auch keine große Lust mich aufzubäumen, es war mir egal.
Am bedenklichsten fand ich allerdings die Tatsache, dass ich bei Menschen im Fernsehen oder auch in Echt nicht vorrangig daran dachte, wie sie leben oder gelebt haben, sondern wie sie gestorben sind oder sterben werden. So habe ich immer schon auch bei den wegen der beschleunigten Bewegungen etwas grotesk wirkenden, stummen Aufnahmen aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts gedacht: „Alle, die ich dort gerade sehe, sind tot. Alle. Ohne Ausnahme.“ Nun kam ich mir selbst vor wie eine dieser Figuren, nur dass ich mich kaum bewegte, geschweige denn einen Tick zu schnell. So ähnlich fühlte ich mich in den wattetauben Tagen nach der Diagnose, als ich mal aus irgendeinem Grund in dem hiesigen Einkaufszentrum wandelte und dachte: „Ihr wisst es nicht, aber ich bin nur ein Geist“. Gesteigert wurden diese Gedanken in besonders schlimmen Momenten noch durch Einwürfe wie: „Wir sind alle verloren, alle miteinander. Niemand kann mir helfen, niemand kann irgendjemandem helfen. Was kann ein Würmchen schon ausrichten, um ein anderes Würmchen zu retten? Nichts.“
In diesem geistigen und körperlichen Zustand trat ich meine Reise nach Bali an. Aus dem Krankenbett ins Flugzeug steigen und mit den verbliebenen 100 Gramm Muskeln mehr als 24 qualvolle Stunden lang ans andere Ende der Welt reisen – ja, was soll man dazu sagen. (Aber es soll ja auch Leute geben, die fliegen ohne Haut am Körper um die Welt, siehe „Tot auf Probe“.) Eigentlich hätten wir auch gleich nach Australien, dem Inbegriff vom „anderen Ende der Welt“ fliegen können, es hätte sich nichts genommen. Schon als Steffen und ich im Morgengrauen ins eiskalte Auto stiegen, um zum Flughafen zu fahren, dachte ich: „Was mache ich da bloß wieder?“ Und dieser Gedanke tauchte fortan mehrmals stündlich auf. Kein Mensch, geschweige denn ein Mediziner, hätte mich hinfliegen lassen, hätte er mich vor dem Einsteigen live erlebt. Ich musste beim Check-in mich mit beiden Händen an der Theke festhalten und mich doch zwischendurch auf den Koffer setzen. Noch nie hat ein Beamter in der Passkontrolle so lange abwechselnd mein Foto und mich angestarrt. Irgendwann glaubte er aber wohl immerhin, dass ich nicht unter falschem Namen reise. Vermutlich hielt er mich für einen langjährigen Junkie. Da es aber kein Gesetz gibt, das Junkies das Reisen explizit verbietet, ließ er mich letztlich ohne eine einzige Frage durch.
Während Steffen und ich 12 Stunden lang auf der ersten Strecke nach Kuala Lumpur ironischerweise ausgerechnet auf den allerletzten Plätzen saßen, die man nicht verstellen kann, dachte ich: „Wenn ich aus dieser Sache ohne eine Lungenembolie rauskomme... Vielleicht gehe ich sehenden Auges in meinen Tod und die anderen Fluggäste müssen leider einen Teil der Strecke mit meiner am Sitz festgebundenen verdeckten Leiche verbringen“ (so profan kann es laufen, wenn der Flug komplett ausgebucht ist und die Geschichte von dem, der angeblich stundenlang zwei Reihen hinter einer Leiche saß, stimmt). Ich besaß kein adäquates Zeitgefühl und schaute deshalb nicht mehr auf dem Display nach, wo wir sind. Wenn ich dachte, wir seien irgendwo über Indien oder zumindest Afghanistan, hatten wir noch nicht mal Wien erreicht. Falls man aufgrund einer langen Liegezeit nicht mehr weiß, wie man eigentlich aufrecht sitzt und seinen Sitz nicht mal fünf Zentimeter nach hinten stellen kann, kann der Verzicht auf Distanzkontrolle sinnvoll sein, es reduziert die Verzweiflungsmomente.
Der zweite Flug von Kuala Lumpur nach Denpasar, Bali verlief in Resignation und Apathie, ich habe auch nicht mehr wie sonst immer gedacht: „Wenn wir abstürzen, dann bitte auf dem Rückflug, dann habe ich wenigstens vorher was erlebt“. Mir war es egal, ob wir abstürzen, auch im Bewusstsein, dass es so dahingedacht ist und dass ich im Ernstfall wie alle anderen nach der Sauerstoffmaske greifen würde. Ich wollte nichts mehr, ich wollte auch nicht nach Bali, ich wollte ein Bett. Das hatte ich zu Hause gehabt, also dachte ich mal wieder: „Warum bin ich bloß hier?“.
Während wir auch noch drei Stunden lang in einem Taxi von Denpasar ans andere Ende der Insel gondelten, wusste ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen sollte. Selbst Steffen, der Gesunde von uns beiden, sagte: „Ich bin am Ende. Wir sind bescheuert. Warum konnten wir uns nicht was Näheres aussuchen.“
Diese mühsame 24-stündige Anreise hat nicht meine Reserven aufgebraucht – ich hatte schon vorher keine. Ich habe es komplett aus der Substanz gemacht. Aber manchmal muss man wohl in Vorleistung gehen, indem man die eigene Substanz als Pfand hergibt. Und man erhält dafür zunächst nichts als eine Verheißung, eine Hoffnung. Man weiß nicht, ob es ein Fiasko wird oder ob man sein Pfand doppelt zurückbekommt.
Ich bekam mein Pfand zehnfach zurück. Es war wie eine Ohrfeige für den Ohnmächtigen. Ich erwachte schlagartig zum Leben. Und mein Körper überraschte mich schon wieder. Ich entwickelte im Handumdrehen einen nie dagewesenen Hunger. Es wäre nicht falsch zu behaupten: einen Hunger nach Leben. Das wäre zudem schön und nur ein bisschen pathetisch. Aber in erster Linie ging es mir doch ums Essen. Ich futterte mehr als Steffen, ich wachte sogar nachts auf und aß schnell und konzentriert ganze Schachteln Kekse und jegliches herumliegende Obst, bis nichts mehr da war. Eines Nachts ging ich vor Hunger sogar auf die Suche nach den Bananenbäumen im Garten, von denen die Bananen am Vortag angeblich stammten. Die waren abgeerntet, der Rest zu klein, und ich wartete sehnsüchtig auf den Morgen, um wieder irgendetwas essen zu können. Ich hortete Keksschachteln, um nachts versorgt zu sein, falls ich aufwache. Ich dachte fast nur ans Essen und kannte nur zwei Zustände: einen unbändigen Hunger oder ein wahnsinniges Völlegefühl. Und doch war es herrlich. Nicht gerade normal, aber herrlich. Mein Körper hatte wohl gedacht, er würde tatsächlich verhungern, es käme nichts mehr, nie mehr – und dann plötzlich das! Natürlich nimmt man da alles, was man kriegt, und am liebsten noch mehr.
Die Schönheit des Landes, in dem ich angekommen war, hat mich zunächst nur gestreift. Ich fand es lieblich, angenehm, aber sie berauschte mich nicht, ich war zu beschäftigt mit mir selbst, auch wenn ich noch nie in Indonesien war. Aber ich war mir nicht böse – erst das Brot, dann die Spiele.
Das Bedürfnis nach Essen blieb allgegenwärtig und ich spürte förmlich, wie die Knochen millimeterweise wieder von Fleisch bedeckt wurden. Und ich erkannte, was für ein Glück es war, dass ich verrückt genug war, etwas auf mich zu nehmen, wovon mir fast jeder vernünftige Mensch abgeraten hätte, geschweige denn es selbst zu unternehmen. Es gab allerdings genug Situationen, in denen ich abermals dachte: „Was mache ich hier bloß wieder?“ Das war der Fall, als ich mit einem Hotelbediensteten auf dem Mofa eine Höllenfahrt über Stock und Stein im Jungle mitmachte, weil wir wieder mal ganz was Abgelegenes gebucht hatten. (Machen Sie das mal auf dünnen Knochen und mit postoperativen Verwachsungen in der Leber, die gemeinsam mit dem Mageninhalt herumhüpfen.) Oder als ich anderthalb Stunden auf einem Kahn ohne Sitzgelegenheit bzw. auf einer Art Hühnerstange verbrachte – für jemanden mit wenig Kraft und schmerzenden Knochen nicht so einfach zu bewältigen. Aber es ist zu bewältigen. (Dass es nichts zum Sitzen gab, hatte damit zu tun, dass man uns statt der versprochenen Fähre ein Frachtgutboot gab – friss oder stirb.)
Ich habe schon viele aufregende Bootsfahrten in meinem Leben mitgemacht, auf die manche Menschen gern verzichtet hätten, aber als wir von der kleinen Insel, die einer anderen kleinen Insel vorgelagert war, zurück aufs Festland fuhren, schien das uralte Miniboot dem Meer tatsächlich hilflos ausgeliefert zu sein, zumindest waren die Menschen im Boot dem halbwahnsinnigen Bootsführer hilflos ausgeliefert. Während selbst Steffen langsam bleich um die Nase wurde, grinste und ich muss gestehen, sogar jaulte ich jedes Mal etwas kindisch auf, als mein Hintern den Kontakt zu dem Sitz verlor, obwohl ich genau wusste, dass die anschließende Landung sich anmuten würde wie ein Aufschlag auf einen harten Holzboden. (Das wusste ich vom Meer gar nicht – dass es sich manchmal verhält, als sei es aus Holz, oder noch eher Zement . Wieder was gelernt.) Auf dem Festland angekommen, war ich völlig durchnässt und musste mich vor der Weiterfahrt hinter ein Auto gebückt komplett umziehen, weil ich in einer vom Personal nicht so gut kalkulierten Wellenphase zum hurtigen Sprung ins Wasser abkommandiert wurde. Als man einsah, dass es ein Fehler gewesen war, rief man mir nur: „Run! Run!“ Nicht so einfach, wenn die Füße im Sand versinken und man wenig Kraft hat, zumindest im Vergleich zu tobenden Wellen. Aber herrlich, wenn man es überlebt.
Selbsterwählter Zwang bringt zumindest bei mir einiges in Gang. Sich vor vollendete Tatsachen stellen, sich etwas völlig anderem ausliefern als dem, was zu Hause oft genug die Bedingungen diktiert – nach der profansten Definition ist das zumindest Abwechslung. Und wenn man eine paradiesische Insel kennenlernen will, muss man gegebenenfalls vorher eben ein paar Höllenfahrten über sich ergehen lassen.
Zum Meer habe ich eine recht spezielle, ambivalente Beziehung, aber darüber habe ich schon in meinem Buch berichtet. Ich laufe ihm hinterher, seit ich es verloren habe. Und Steffen liebt das Tauchen. (Von mir bleibt die phantastische, magische Unterwasserwelt wegen meiner dicken Krankenakte für immer unentdeckt, worüber ich fast heulen könnte.) Deshalb verbrachten wir mehr als die Hälfte unserer dreieinhalb Wochen an verschiedenen Küsten und acht Tage davon blieben wir sogar auf einer einzigen Insel. Das Gesicht des Meeres war aufgrund der instabilen Wetterlage (es war ja Regenzeit) jeden Tag neu, das der Strandes ebenso, eines morgens begrüßte uns sogar ein über Nacht entstandener und recht reißender Fluss, der vom Dorf quer ins Meer lief und uns nicht mehr trockenen Fußes zum Restaurant ließ (wer aber permanenten Hunger hat, der watet gern).
Hätte mir einer vor der Reise gesagt: Für das Privileg, direkt auf dem Strand zu wohnen musst du nachts dreimal eine steile Treppe, eher eine Hühnerleiter herunterklettern, um auf die Toilette zu kommen (meine Nieren fingen wohl auch erst auf Bali an, wieder besser zu funktionieren) und dich mit kaltem Wasser duschen – ich hätte gesagt: „Na, das wollen wir sehen, das in meinem Zustand – sind Sie verrückt? Ich friere sowieso schon und brauche zumindest eine behindertengerechte, ebenerdige Wohnung, keine Hühnerleiter.“ Aber siehe da – ich habe es überlebt. Die Treppe hat mir sicherlich geholfen, ein-zwei Muskeln aufzubauen und Steffens Äußerungen zu der kühlen Außendusche unter freiem Himmel - „Stell dich nicht so an, das ist erfrischend“ - fand ich mit der Zeit gar nicht mehr so anmaßend und realitätsfern.
Die Wärme der tropischen Luft und die Wärme in mir, die sich schlagartig von selbst regulierte, nachdem ich zum Leben erwacht war, spüre ich jetzt noch, Wochen später. Während ich dies schreibe, ist mir, als würde ich gerade zusammen mit den Geckos und Grillen in meinem schwarz-rosa beblümten Wickelrock vor der Hütte sitzen und die blinkenden Bootslichter im schwarzen Wasser schillern sehen. All das, was Bali ausmacht beziehungsweise weshalb man als Normaltourist hingeht - die grünen Reisterrassen, die beeindruckenden Tempel und Tempeltänze, die wilde und die domestizierte Küste mit dem schwarzen oder weißen Sand, die Regenwälder und die vulkanischen und nichtvulkanischen Berge, die berühmte Handwerkskunst, die Herzlichkeit der Menschen, besonders im Hinterland, die unterschwellige Mystik, die unsichtbar wie die Neutrinos das ganze Alltagsleben durchdringt, die Sonne, auch wenn sie meist entweder milchig-weiß oder hinter den dunklen Wolken gar nicht lokalisierbar war, (den manchmal apokalyptisch anmutenden Regen lasse ich jetzt mal weg, weil man seinetwegen selten extra 13.000 km weit reist), die Tiere und die Vögel, die Schmetterlinge und die Blumen, und den ganzen Rest an Schönheit, den ich zu erwähnen vergesse – all das haben auch meine Augen gesehen, aber darüber gibt es so viele Bilder, Reportagen und Schilderungen, dass meine überflüssig sind. Außerdem hat meine Seele all dies nur leise, nebenbei und fast heimlich aufgenommen, sie hatte wohl kapiert, dass diesmal der Körper die erste Geige spielte, dass wir auf der Maslowschen Bedürfnispyramide erst auf den unteren Stufen herumkrabbelten und ich deshalb jeden atemberaubenden Sonnenuntergang gegen eine zünftige indonesische Mahlzeit eingetauscht hätte. Aber aufgenommen hat sie es. Während ich zu Hause in der Zeit mittlerweile nur bis zum Briefkasten gekommen wäre. Und das vermutlich auch noch als Fortschritt bezeichnet hätte. Niemals wäre ich zu Hause so schnell wieder auf die Beine gekommen, im direkten und übertragenen Sinn.
Fazit: Ich würde es wieder tun, und hoffentlich bekomme ich sogar noch Gelegenheit dazu, auch wenn ich mich jetzt erst mal finanziell etwas ruiniert habe und die nächste Reise warten muss. So lange zehre ich von dieser. Jedenfalls: Schonhaltung ist nicht gesund. Permanente Schmerzvermeidung kennt man schon von Zuhause, das halbe Leben ist darauf ausgerichtet, zumal wenn man krank ist. Aber Schmerzvermeidung ist kein Lebenskonzept, Schonhaltung lässt keine Erlebnisse zu. Leben aber besteht nun mal aus Erlebnissen. Und Ungewissheit gehört dazu, es ist geradezu eine Grundvoraussetzung, wenn man sich lebendig fühlen will. Wie viel Energie man darauf verschwendet, eine vermeintliche Sicherheit herzustellen oder aufrechtzuerhalten, also ebendiese Ungewissheit auszuschalten! Das ist ja, als würde man versuchen, das Leben auszuschalten. Ich versuche daran zu denken, wenn ich das nächste Mal bei Nacht und Nebel auf dem Weg zum Flughafen bin und mich frage: „Was mache ich hier bloß?“
Ich esse übrigens immer noch wie ein Scheunendrescher. Es ist jetzt wohl doch der Hunger nach Leben.
Mittwoch, 8. Februar 2012
Zurück als Hibiskusblüte
Nun wollte ich alle, die sich fragen, ob ich aus Bali lebendig zurückgekehrt bin, beruhigen und in schönen Worten erklären, dass ich dort zu Kräften gekommen und tatsächlich aufgeblüht bin wie seit langem nicht mehr. Aber wie es mir manchmal so passiert, kam beim Schreiben etwas völlig anderes raus, diesmal überraschenderweise ein Artikel über Bettler und Obdachlose. Über Bali und was das mit mir gemacht hat schreibe ich in Bälde. Falls ich dabei nicht in Musik oder Massentierhaltung abgleite.
Jedenfalls: Ich blühe, und das mitten im Winter. Reisen verlängert mein Leben, dieser Satz gilt immer noch.
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