Dienstag, 23. November 2010

Meine erste Perücke

Bei der ersten Chemo meines Lebens, als alles noch neu und schrecklich war, lernte ich eine ältere Dame kennen, die eine dermaßen natürlich wirkende Perücke aufhatte, dass ich zuerst dachte, sie kriegt eine Chemo, die die Haare nicht zerstört (solche Chemos gibt es tatsächlich). Zwei Wochen später, als Haarekämmen für mich schon eine sehr destruktive Tätigkeit war, fuhr ich mit Steffen zum gleichen Friseur, um mir auch eine feine Perücke zu kaufen. Damals konnte ich mir nämlich noch nicht vorstellen, auch nur eine Sekunde ohne Haare zu sein, auch die schönsten Tücher waren keine Alternative. 
Der Friseur beeindruckte mich zunächst damit, dass er mir nicht erlaubte, in den Spiegel zu schauen, während er mit dem Rasierapparat herumsurrte. Zum Spiegel drehte er mich erst mit der Perücke. Gute Strategie, kluger und erfahrener Friseur, kennt sich mit Krebskranken aus, dachte ich, und glaubte zum Schluss auch selber, dass mir dieser strenge und obersportliche Kurzhaarschnitt steht. Und nicht nur herausragend resoluten und humorfreien Politikerinnen, mit denen nicht gut über Staatsbudget streiten ist. (Ich meine aber weder Künast noch Merkel.) Der Clou bestand ja darin, dass - während im normalen Perückengeschäft die Perücke nur kurz aufgesetzt und in einem „neutralen“ Karton mitgegeben wird -, er hier mit seiner Meisterhand noch den letzten Schliff gab. Na gut, diese Perücke (die einzige, die seiner Meinung nach für mich in Frage kam, und groß war die Auswahl bei ihm nicht) war vor dem Schliff auch nicht viel schöner, also war der Verlust objektiv betrachtet nicht nennenswert und seine Arbeit wahrscheinlich hervorragend. Steffens (in praktischer Hinsicht allerdings nutzloser) Kommentar war, dass es vorher schöner war, aber dass er mich auch ohne Haare liebt, und dass ich wegen ihm gar keine Perücke tragen bräuchte.
Ich kaufte noch eine ganze Tüte voll teure Spezialpflegemittel für die Perücke, denn der Friseur machte mir unmissverständlich klar, dass man ein solch exklusives Erzeugnis nicht mit gewöhnlichen Massenprodukten belästigen darf. Eins davon traute ich mich nie zu benutzen, denn es sollte der Perücke zwar einen wundervollen Glanz schenken, aber zerstäuben sollte man das besser nicht in der Wohnung, sondern in der Natur, weil die geringste Menge davon die Fußböden so glatt macht, dass ich, wenn ich vor einem Mörder fliehen sollte, nur ein wenig davon hinter meinen Rücken auf die Treppe zu zerstäuben bräuchte (oder je nachdem, wo entlang ich gerade fliehe), und der Mörder würde auf die Schnauze fliegen und sich alle Knochen brechen. Was für Kunststücke die übrigen Mittel drauf hatten, weiß ich nicht mehr.
Ich trug diese erste Perücke, bis jeder Blick in den Spiegel nicht mehr deshalb erschreckend war, weil ich dort eine andere Frisur erwartet hatte, sondern weil mir jedes Mal eine resolute Politikerin mit einer Kleiderbürste auf dem Kopf entgegensah, an die ich mich auch nach mehreren Monaten nicht gewöhnen und sie in meinem Haus willkommen heißen konnte, geschweige denn mich mit ihr zu identifizieren.
Ich kaufte dann in einem gewöhnlichen Perückengeschäft, wo ich durch mein begrenztes geistiges Horizont nur indiskutable Perücken vermutet hatte, mit denen man sich automatisch die Augenbrauen auf die Stirn und den Mund bis zu den Ohren malen würde, eine sechsmal billigere und zwölfmal schönere Perücke. Meine jetzige, fünfte Perücke kann man schon fast schön nennen, aber zum Schwitzen bringen sie einen alle, lauft doch selber im Sommer mit einer Pelzmütze herum.

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