Mittwoch, 7. Dezember 2011

Wieder "draußen"

Steffen ist im Kino – „Halt auf freier Strecke“, über einen todgeweihten Mann mit Hirntumor. Muss sehr gut sein, laut Spiegel-Rezension „für Menschen, die es wissen wollen“, also wäre ich normalerweise prädestiniert. Ich habe mich aber kurzfristig dagegen entschieden. Bin momentan einfach kein „Mensch, der es wissen will“. Zu nah ist mir nach meinem diesmaligen Krankenhausaufenthalt dieses allseitige - reale - Gestrampele der Leiber (mein eigener inbegriffen) gegen Tod, Krankheit, gegen Zeit und Vergänglichkeit. Später vielleicht, falls es ein Später gibt; gerade stimmt das Timing einfach nicht. Aber stark von Steffen.

Ich kann mich nicht erinnern, nach einem Krankenhausaufenthalt ein solches Schlafbedürfnis gehabt zu haben: 15 Stunden am Stück in der ersten Nacht, in den zwei darauffolgenden je 12 Stunden. Ein dermaßen merkwürdiger, lehrreicher, aber auch strapaziöser Krankenhausaufenthalt war das. Das lag nicht an schlechter Betreuung, sondern an meinen diesmaligen Zimmergenossinnen. Ein Krankenhausaufenthalt kann manchmal auch recht amüsant sein, zum Beispiel erinnere ich mich gern an eine Frau vom letzten Jahr, die sich wie folgt vorstellte: „Bettina, Entgiftung“. Ich dachte, sie sei Dialysepatientin, also fragte ich: „Nieren?“ Sie antwortete trocken: „Alkohol“. Diese Alkoholikerin entpuppte sich als eine interessante, gebildete und belesene Gesprächspartnerin und ich hoffe inständig, dass sie heute trocken ist. Und ein paar andere Zimmergenossinnen in meiner Laufbahn waren alles andere als unangenehm, auch wenn der Kontakt sich nie lange aufrecht hielt.

Aber noch nie habe ich solche Menschen als Zimmergenossinnen gehabt, noch nie wurde ich wochenlang vom dortigen Gesellschaftsleben, wenn man das so nennen mag, dermaßen aggressiv aufgesogen: zwei Irre beziehungsweise eine ziemlich bösartige und hochgradig manipulative Irre, die die Grenze von Magersucht und Bulimie (28,7 kg bei 1,70 m) über Borderline hinweg bis hin zur Schizophrenie längst überschritten hatte und einem damit ganz schön Angst einflößte. (Am Ende kamen allerdings drei starke Männer und brachten sie in die geschlossene Abteilung.) Und eine herrische, verbitterte Simulantin, die elf Tage allein zuhause verbringen musste - „Und keiner kümmerte sich um mich“ -, so dass sie mit Notarzt eingeliefert werden musste, weil sie jetzt Burnout hat. Sie hatte zwei Stimmen: eine knarzige und eine nasale, anklagende. Keine Ahnung, warum sie die zweite, die noch viel unangenehmer und schwerer zu ertragen war, einsetzte, wenn sie Mitleid erregen wollte oder sonst etwas bezweckte. Ich hätte die erste genommen.

Alle beide buhlten letztlich einzig und allein um Aufmerksamkeit. Leider taten sie dies mit so abstoßenden Mitteln, dass mein Mitleid und der Wunsch, verständnisvoll zu sein, schnell Wut und Ekel wich. Ich glaube, ich bin dadurch etwas asozialer geworden, vielleicht ist es sogar gut für mich. Jedenfalls werde ich nie mehr fünf Stunden lang leise vor mich hin weinen, bis ich eine Schmerzspritze kriege (eher laufe ich Amok), während eine eingebildete Kranke alle fünf Minuten auf Gutsherrinnenart meldet: „Mein Rücken ist ganz kalt“, „Wie geht diese Lampe da im Flur an?“, „Wieso kriege ich den Fernseher nicht an?“ und die drei Schwestern und eine Ärztin herbeiruft, um endlich bestätigt zu bekommen, ihre Füße seien ganz blau. (Mit dem Ergebnis, dass die Schwestern vor lauter Nichtsehen und Ratlosigkeit ihr ein warmes Fußbad einlassen und ihr die Füße salben wie bei Jesus. So geschickt muss man sein.) Und die sich füttern und aufs Klo bringen lässt, obwohl sie eigentlich sogar laufen kann, wenn das niemand sieht. Und die zwei Drittel der Nacht schnarcht wie ein Straßenbohrer, aber jeden, der tagsüber telefoniert, brüsk anweist, leiser zu sein. So, ruhig Blut, ich darf mich nicht reinsteigern, es gäbe einfach noch zu viel desselben zu schreiben und das mache ich jetzt nicht. Außerdem war die Bulimikerin viel interessanter und gefährlicher und fraß viel mehr Nerven als diese verbitterte alte einsame Frau. Immerhin tut die Bulimikerin mir mit etwas Abstand wieder leid. Es ist ja auch echt verzwickt, wenn man eigentlich nicht zunehmen will, weil man sich mit 29 kg schöner findet, zumal man wegen vorangegangener Straftaten ins Gefängnis muss, sobald man das Gewicht einigermaßen beisammen hat. Verständlich, dass man da in Panik gerät, wenn man entdeckt, dass man nicht genug gekotzt hat und trotz aller Vorsicht doch 200 Gramm zugenommen hat. Vergessen auch, dass sie, nachdem ihre Kontaktaufnahmen nicht mehr fruchteten, weil ihr permanenter Redeschwall einzig auf irgendeinen neuen schwer durchschaubaren Manipulationsversuch hinauslief, nachts schlagartig motorisch so schlecht drauf war, dass ihr ständig Gegenstände herunterfielen wie Besteck, Schlüsselbund, stapelweise Bücher, und - ich könnte fast schwören - unter anderem eine große leere Plastikgießkanne und ein Amboss.

Was habe ich gerade selbst gesagt? Schluss damit. Wenn man größtenteils mit selbstgewählten, angenehmen Menschen zusammen ist, lässt sich in seinem Elfenbeinturm leicht philosophieren: „Wir sind alle eins, sind miteinander verbunden und gehören zusammen“. Wenn man seit langem so brutal mit den Realitäten der menschlichen Seele und der menschlichen Handlungen konfrontiert wird, wird es schon schwieriger. Also muss ich mich anstrengen, um diese These aufrechtzuerhalten, statt hier Gift zu spritzen und nachzutreten. (Aber ehrlich, es war so abstoßend, ich möchte nicht mit jedem Eins sein, bitte.)

Dafür traf ich aber auch eine der bemerkenswertesten, stärksten, witzigsten Frauen, die ich je in meinem Leben kennengelernt habe, insofern war es im Nachhinein betrachtet eine richtige Bereicherung. Sie ist 68, hatte neunmal Blasenkrebs, einmal Lungenkrebs (jetzt kam die zweite, noch bösartigere Lungenkrebsdiagnose dazu), einen Herzinfarkt vor sechs Wochen, was die Therapie ziemlich erschwert, sowie Kleinkram wie Typhus im Kindesalter und Eileiterschwangerschaft mit drei Liter Blutverlust, die sie nur dank ihrem zweijährigen Sohn überlebte, außerdem hat sie eine künstliche Bauchspeicheldrüse und noch ein paar Sachen, die mir nicht mehr einfallen. Zwei Kinder hat sie allein groß gezogen, die sie täglich besuchten. Diese Frau hat Humor, Verstand und Anstand. Während eine Gleichaltrige – ebenfalls 68 - sich nebenan füttern lässt wie ein Baby. Die Motive, sich ins Krankenhaus zu begeben scheinen wirklich vielfältig zu sein. Und manche Ereignisse schweißen einfach zusammen, wir sind beide dankbar, diese Zeit wenigstens gemeinsam durchstanden zu haben und fühlen uns jetzt wie Kriegskameraden und wollen regelmäßige Veteranentreffen einführen.

Zurück zu Gesundheitsfakten. Beziehungsweise: Nun zu den Gesundheitsfakten. Mit 46 kg bin ich bereits leicht untergewichtig hin, mit 42,8 kg wieder heim. (Jetzt meine ich immer, ich sitze auf einem Knopf, dabei ist es mein Steißbein.) Dies wiederum lag nicht an den Irren, sondern daran, dass mein Bauch so voller Luft war, dass Essen unmöglich war. Jetzt gebe ich jedem leichten Hungergefühl großzügig nach, um mich wieder aufzupäppeln. Habe leider Afinitor zu früh wieder voll eingesetzt, so dass meine Mundschleimhäute sofort hinüber waren. Musste  reduzieren und langsam steigern.

Ein Tumor von 6x5x4 cm im linken Leberlappen ist weg, leider allerdings, wie wegen der gefährlichen Nähe zu Magen, Darm und Gallenblase schon befürchtet, mit einem Überbleibselrand. Selbstverständlich bekam ich eine Infektion, diesmal eine richtig hartnäckige und wohl auch gefährliche, die mehrere Antibiotika auf Probe stellte. Momentan nehme ich das vierte Antibiotikum und die Entzündungswerte erscheinen rückläufig.

Der Tatsache, dass ich am OP-Tag zufällig an einer besonderen Visite teilhaben konnte, verdanke ich vermutlich nicht zuletzt den Umstand, dass ich diesmal kaum erinnerungswürdige Schmerzen hatte. Die Professorin, die sich eigentlich auch nur mit Privatpatienten abgeben könnte, macht nämlich einmal wöchentlich eine Gesamtvisite. Nachdem ich ihr sagte, dass mir die dem Eingriff anschließenden Schmerzen Sorgen machen, weil es letztes Mal nicht wirklich gut lief, befahl sie, mich bei Bedarf jederzeit unverzüglich mit allem zu versorgen, was ich brauche. (Diese Frau ist, mit Verlaub und allem Respekt, wirklich eine Wucht. Eine absolut faszinierende, freundliche, Geist und Stärke ausstrahlende Persönlichkeit. Für mich der ultimative Beweis, dass Schönheit von innen kommt und auch im betagten Alter möglich ist. Und dies sage ich völlig ohne morphinbetrübten Blick oder nur weil sie so nett zu mir war.)

Schmerztechnisch lief es jedenfalls wirklich optimal und ich habe einen Teil meiner diesbezüglichen Ängste begraben können. (Wie merkwürdig es sich später im eigenen Entlassungsbericht liest: „Patientin wach, orientiert, blass, ängstlich“.) Es scheint jedenfalls ohne weiteres möglich zu sein, einen Patienten weitestgehend schmerzfrei zu halten, wenn man es nur wirklich will. Das ist gut zu wissen, denn ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass meine Schmerzen schwer zu bekämpfen sind, weil ich auf Schmerzmittel überdurchschnittlich schlecht oder unterdurchschnittlich gut anspreche. Jetzt bin ich allerdings schon beim Ausschleichen, wie Mediziner das nennen, noch höchstens eine Woche und ich bin wieder clean. Nur nicht zu ungeduldig werden und zu schnell reduzieren, sonst wache ich nachts doch vor Schmerzen auf.

Mein Aufenthalt außerhalb des Krankenhauses ist diesmal allerdings kurzfristig. Am liebsten hätte mich mein Arzt schon diese Woche schon wieder hingeschickt, weil die Metastase im rechten Lappen doch auch recht eilig sei, und sonst kommt Weihnachten und der ganze Kram. „Keine Zeit verlieren“ ist sonst auch meine Devise, aber ein Roboter bin ich nicht. Mit guten Argumenten („Hab gar keine Substanz mehr, wiege ja nix; bin mental noch nicht so weit, muss zwischendurch was anderes sehen“) ergab sich der Kompromiss, dass ich am 14.12 hingehe. In der Zwischenzeit fliege ich spontan nach Finnland, um meine Schwester Kristiina und meine Nichten Petra und Liisa zu besuchen. Ein geographischer Wechsel, der dazu nötig ist, kommt mir gerade recht. Zwischendurch machen wir einen Abstecher mit der Fähre nach Tallinn, meiner Heimatstadt. Somit schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, denn mindestens einmal jährlich will ich Estland sehen. Es ergibt sich irgendwie immer wieder, dass ich meine Heimat zur hässlichstmöglichen Jahreszeit besuche, aber das bekümmert mich nicht so. Eher die Tatsache, dass ich Dienstagabend zurück und schon Mittwochmorgen im Krankenhaus sein muss.

Steffen ist zurück vom Kino: Höchstnote, was bei ihm heißt: „Ein Film ohne eine einzige Schwäche“. Fühlt sich sehr bereichert, wenn auch schwer angeschlagen. Ansonsten konform mit der Spiegelrezension: Sehr, sehr gut. Aber nacherzählen geht nicht. Ich mag keine Filme, deren Handlung man einfach nacherzählen kann, also muss ich wohl doch rein. Hoffentlich sitze ich Weihnachten nicht im Krankenhaus, dann könnte ich ihn vielleicht noch sehen. Darauf, dass ich zur Not irgendwann die DVD sehen werde, kann ich ja nicht bauen. Das dauert vielleicht ein halbes Jahr, bis die rauskommt.



Donnerstag, 10. November 2011

Gesundheits- und Befindlichkeitsreport November 2011 (formerly known as Mein aktueller Gesundheitszustand Monat/Jahr)

 
Manche Fragen lösen sich dadurch, dass man sie einfach aussitzt wie Helmut Kohl seine Spendenaffäre. Mein Aussitzen, allerdings bedingt durch eine Entscheidungsschwäche, hat mich zu der Entscheidung gebracht, vorerst (auch wenn das Wort angesichts meiner Lebensphase merkwürdig klingen mag) kein Antidepressivum zu nehmen, sondern es (vorerst) einfach laufen lassen. Und jetzt traue ich dem Frieden langsam doch. Wenn ich möchte und falls es zufällig ein Mythos sein sollte, dass man Medikamente mehrere Jahre nach dem Ablauf des Haltbarkeitsdatums nicht mehr verwenden sollte (hab noch welche von vor sechs Jahren), kann ich ja immer noch jederzeit damit anfangen. (Oder mir neue verschreiben lassen, aber die schwäbische Aufbrauchmentalität hat mich wohl mittlerweile infiltriert.) Dieses Wissen scheint mich ebenfalls bei der Stange zu halten und meine Entscheidungsschwäche angenehm zu stützen.

Erstaunlicherweise habe ich mehrere ermutigende Briefe auf meinen diesbezüglichen Blogbeitrag bekommen. Man muss Antidepressiva heutzutage also gar nicht unbedingt verteidigen. Eher muss man sich erklären, wenn man mit dem Gedanken spielt, welche zu nehmen und es dann doch nicht tut – so wie ich, die ich ja anscheinend zu der absolut berechtigten Zielgruppe gehöre. Die Erklärung lautet wie folgt und wie schon mal gesagt: Ich möchte alles mitnehmen, und meiner Erfahrung und Erinnerung nach fehlen mir mit Antidepressiva, und seien sie noch so sanft und geringdosiert, die Spitzen in der elektrischen Kurve, die mein Hirn und/oder meine Seele produzieren. Diese Spitzen lehren mich aber am meisten, und ich möchte lernen und fühlen, bis ich sterbe bzw. noch einigermaßen interessiert und aufnahmefähig bin.

Völlig anders verhält es sich allerdings mit Schmerz. Siehe dazu den Extrabeitrag, den ich demnächst reinstellen werde. Das Thema ist so umfangreich und beschäftigt mich so sehr, dass ich das hier unmöglich unterbringen kann, aber da ich beim Schreiben oft mit mir selbst debattiere (diese verdammte Dialektik!), komme ich nicht umhin, gerade hier einzuwerfen: „Tja, alles mitnehmen wollen, aber was ist mit Schmerz? Der gehört auch zum Leben!“. Und weil die Dialektik besonders nervig ist, wenn man sie gegen sich selbst verwendet, um ja eine klare Aussage zu vermeiden oder zu relativieren, die ansonsten keiner in Frage stellen würde, sage ich: Was kümmert mich mein Geschwätz von vor drei Sekunden, hier ist der Beitrag.

Also. 
Schmerz 
Oder besser: Schmerz nicht im Allgemeinen, sondern unter besonderer Berücksichtigung des Mitnehmens

Ja, ich möchte zwar alles, was das Leben zu bieten hat, mitnehmen. Aber mit Schmerz verhält es sich völlig anders, den kille ich gerne und bei Bedarf rigoros. Da es mittlerweile keinen Körperteil an mir gibt, der nicht in irgendeiner Form mit Schmerz konfrontiert worden ist, gibt es da nichts mehr zu lernen für mich. Im Gegenteil: Zu viel körperlichen Schmerz macht dumm, weil es die geistigen Kapazitäten bindet, von den körperlichen selbstredend ganz abgesehen. Und falls es doch was zu lernen gäbe oder ich einen Körperteil nicht berücksichtigt oder eine Eigenschaft des Schmerzes nicht kennengelernt haben sollte (bohrend, stechend, stumpf, scharf, wellenartig, pochend etc. etc. scheiden also schon mal aus), sterbe ich gerne ohne dieses Zusatzwissen, was unter Umständen schmerztechnisch noch alles möglich wäre.

In diesem Zuge möchte ich gerne auch mit einem Satz aufräumen, der irgendwann für so schön und schlüssig befunden wurde, dass er im allgemeinen gesellschaftlichen Konsens energisch abgenickt wurde:
„Seelischer Schmerz ist schlimmer als körperlicher Schmerz“.
Ich sage darauf: „Mitnichten“. Zumindest lebt man mit seelischen Schmerzen unter Umständen länger. Wer jetzt sagt: „Dann wissen Sie nicht, was seelischer Schmerz ist“, dem antworte ich schon wieder: „Mitnichten. Sehr wohl weiß ich das“. Und seit meiner fatalen Thailandreise weiß ich, dass zu lange ausgehaltener und eigentlich unerträglicher körperlicher Schmerz in relativ kurzer Zeit töten kann. Viel hat damals jedenfalls nicht gefehlt. Und mit „unerträglich“ meine ich keine Schmerzen, mit denen man noch in der Lage ist, sich ein Sterberecht einzuklagen oder sich – zumindest selbständig – auf die Gleise zu legen. Oder die Dachterrasse eines Hochhauses aufzusuchen und ähnliches. Wer meine Aussage noch nicht verstanden hat: Das alles kann man mit seelischen Schmerzen sehr wohl. Mit schrecklichen seelischen Schmerzen kann man sogar jahrelang so tun, als ob man keine hätte. Wer immer noch nicht folgen kann, dem sei gesagt: Auch das kann man mit entsprechenden körperlichen Schmerzen nicht. Und um nicht nur noch mal in diese Kerbe zu schlagen, sondern sie mit einem Taschenmesser richtig auszuhöhlen: Wer sich vor Schmerz windet, wird selten darüber nachdenken, endlich mal eine Psychotherapie zu beginnen, um seine seelischen Probleme in den Griff zu bekommen. Der hat nur einen Gedanken, nur eine Priorität. Welche das ist, müsste nun auch ohne Taschenmesser klar sein.

Und damit wären wir am Ende unserer an sich fast beliebig erweiterbarer Beweiskette. Zumindest solange wir nicht anfangen, zum Beispiel völlereibedingte Magenschmerzen mit dem seelischen Schmerz missbrauchter Kinder oder mit dem der Eltern eines verschwundenen und/oder ermordeten Kindes zu vergleichen (in meinen Augen die schlimmsten Formen seelischer Schmerzen), oder andersherum: einen Migräneanfall zu vergleichen mit mieser Laune aufgrund des chronisch fehlenden Sommers. Obwohl ich zugeben muss, dass es mich nun reizen würde, zwei an Maslow angelehnte Schmerzpyramiden zu erstellen. Was allerdings viel sinnlose Arbeit bedeuten würde und deshalb durch mich unerledigt bleibt.

Ich hätte allerdings noch einige andere Postulate dieser Art, deren Schönheit und demzufolge scheinbare Schlüssigkeit mir auf den Keks gehen und auf die ich deshalb gerne mit einem „Mitnichten“ antworten möchte, unter anderem weil mir dieses Wort gerade so gefällt, aber vielleicht ein andermal. Sonst muss ich hier noch weitere selbständige Beiträge einflechten. Und hätte wieder mal am Thema bzw. Überschrift vorbeigeschrieben.

Zurück zum Gesundheits- und Befindlichkeitsreport, der jetzt so heißt, weil 1) mir „Mein aktueller Gesundheitszustand“ als Rubrik eigentlich von Anfang an irgendwie komisch vorkam; wenn ich dies aber nicht explizit formuliere, würden mich besorgte Leser oder Flüchtigleser hinter den Kulissen fragen: „Aber wie geht es Ihnen gesundheitlich im Moment, darüber erfährt man in Ihrem aktuellen Beitrag nichts?“ und 2) ich kürzlich irgendwo wieder etwas Verächtliches über Befindlichkeitsblogs und –getwitter gelesen habe. Zwar ging es dabei um Themen wie „Heute hab ich schlechte Laune“, aber um mich über den Verdacht zu erheben, ich führte ein reines Befindlichkeitsblog, springe ich einfach auf diesen Zug auf, um ja jedem klar zu machen, dass ich mich durch Ironie von so etwas distanzieren will. Ob es mir auch in der Praxis gelingt, darüber zu urteilen sei jedem selbst überlassen.

Meine Befindlichkeit hat momentan also ein A-Rating, wenn nicht gar AA-Rating. Ich habe momentan jedenfalls überhaupt keine Schmerzen, oder höchstens welche der zu vernachlässigenden Sorte. Ich habe auch keine Depression - nicht mal die Tatsache, dass der Kelch, der seit ein paar Monaten in einem 30-Grad-Winkel über mir hängt und mir dadurch fast eine Depression bescherte, dass dieser Kelch am Montag tatsächlich über meinem Kopf ausgeschüttet wird, macht mich momentan wirklich fertig. Will sagen: Die werden nächste Woche im Krankenhaus tatsächlich an meine Lebermetastasen rangehen, wie schon dreimal zuvor, nur ist es diesmal etwas kniffliger. Und will noch sagen: Nicht mal das macht mich wirklich fertig, mir scheint es also psychisch recht gut zu gehen, auch ohne Antidepressiva.

Das Hirn ist nämlich ein so wunderbares Organ: Selbst äußerst unangenehmen, gar traumatischen Erinnerungen stülpt es irgendwann einen Pontscho über, der zwar löchrig ist, aber doch vieles verdeckt. So sehe ich der Sache mittlerweile pragmatisch und fast gelassen entgegen, zumindest darf es im Krankenhaus nach den üblichen gründlichen Voruntersuchungen nicht heißen: „Nicht operabel, auf Wiedersehen. Beziehungsweise eben nicht auf Wiedersehen, sondern leben Sie wohl. Beziehungsweise… äh, Sie verstehen schon.“ Ich hoffe also, dass sie operieren können und dass es auch gut geht. Was danach ist – zu erwarten ist, dass es noch ätzender wird als je zuvor -, soll heute noch nicht meine Sorge sein. Am Montag dann.

Mit einiger Überraschung stellte ich kürzlich fest, dass es die vierte RFA (Radiofrequenzablation) innerhalb von 16 Monaten ist, also im Schnitt alle vier Monate eine. Danach jedes Mal wochenlange Rekonvaleszenz, und trotzdem kommt mir die Zeit, die ich dadurch gewonnen habe und die ich auch genießen konnte, so lang und reich vor. Zwar fühle ich mich aktuell so fit, dass es fast schade ist, diesen Zustand durch den Eingriff für viele Wochen wieder zunichte zu machen, aber das ist selbstverständlich gesponnen, reines Luxusdenken. Also auf zur vierten RFA!

Mittwoch, 9. November 2011

Lesung


Noch später und dadurch werbemäßig wohl noch weniger wirksam hier noch schnell der Hinweis, dass ich übermorgen, am Freitag um 19:30 Uhr in Mössingen in der Tonnenhalle im Pausa-Quartier lese bzw. erzähle und lese. (Nächstes Mal mache ich meine entsprechende Ankündigung wahrscheinlich eine Woche nach der Veranstaltung). Keine Sorge, ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der Raum ist, in dem die Mülltonnen bis zur Entleerung aufbewahrt werden.

Dauer steht nicht fest, aber so wie ich mich kenne, kommt da keiner vor zwei Stunden wieder raus, hängt allerdings auch von der Menge der Fragen am Ende ab. Ob eine Pause eingeplant ist, muss ich noch erfragen - gut, dass wir gerade darüber sprechen. Letztes Mal ist jedenfalls niemand in der Pause gegangen, das bewerte ich so, dass ich eigentlich ruhig noch eine Stunde dranhängen kann. (Wieder: Keine Sorge, mach’ ich nicht, aber letztes Mal hörte ich von mehreren Zuhörern, dass sie die Zeit völlig vergessen hätten. Ich übrigens ebenso. Also wenn Sie auf den Zug müssen, dann stellen Sie sich ruhig den Handyreminder oder wie das auf Deutsch heißt. Wir sind bei mir ja nicht im Kino.)

Herzlich willkommen jedenfalls. Hoffentlich habe ich bis Freitag wieder eine Stimme, momentan krächze ich recht unansehnlich. (Oder heißt es dann unanhörlich oder was.) Wird aber sicher wieder, Ingwertee ist wirklich gut, danke, Sabine, das mache ich jetzt täglich, ob du es glaubst oder nicht, die Knolle ist fast schon weg. Und bevor ich jetzt noch neue Vorschläge bekomme: Primel und Thymian nehme ich auch, und noch einiges andere, vielen Dank. Ich freue mich jedenfalls drauf – auf die Wiederkehr meiner Stimme und auf die Zuhörer. Ich glaube, das wird für alle Beteiligten wieder eine schöne Sache.

Montag, 17. Oktober 2011

Soirée

Sehr spät und dadurch werbemäßig vermutlich kaum wirksam teile ich hiermit mit, dass am kommenden Donnerstag, den 20.10 um 19:30 Uhr in Frankfurt, Haus am Dom, Adresse: Domplatz 3, eine Soirée mit meiner Person (ich sage extra nicht: „mit meiner Wenigkeit“, weil mir dieses drollige möchtegernbescheidene Wort zwar gefällt, es leider aber so abgedroschen ist) stattfindet. Es ist ein Dreiteiler: Erst Lesung, dann Bühnendiskussion und schließlich Interaktion mit dem Publikum, also Fragen stellen. Wenn keine Fragen kommen, dann nach Hause gehen.

Ich warne Sie allerdings, oder beglücke Sie (je nachdem) mit der Ankündigung, dass meine Lesung nicht ganz klassisch verlaufen wird. Mein persönlicher und leider auch in Wirklichkeit mehrmals wiedergekehrter Albtraum einer Lesung ist: Autor (unter Umständen auch ein von mir sehr verehrter und geliebter Autor) liest - gegebenenfalls mit monotoner, einschläfernder Stimme - aus seinem aktuellem Buch, das ich eh schon selbst gelesen habe; Autor klappt das Buch zu und steht auf; Applaus; Autor verschwindet, ohne die Möglichkeit für Fragen aus dem Publikum anzubieten, oder, noch schlimmer: ihm werden Fragen hinterhergerufen, die er ignoriert.

Ich werde jedenfalls versuchen, diametral dazu vorzugehen. Beziehungsweise so ist die ganze Sache ja auch konzipiert, wie oben schon zu lesen war.

Zwar habe ich aktuell eine starke Erkältung, mein Kopf ist momentan aus Beton und hat einen Durchmesser von circa einem Meter, aber bis Donnerstag ist sein Umfang hoffentlich auf einen halben Meter geschrumpft. Zumindest ist mir ein super Einstieg eingefallen, und ich glaube: so einen hat wohl noch nie jemand in seiner Lesung gebracht. Hoffentlich läuft mir das Publikum nicht gleich mit ihren Trenchcoats auf dem Arm und mit zusammengeklappten Regenschirmen Richtung Bühne fuchtelnd davon. Aber jetzt nichts Schockierendes erwarten oder so, der Einstieg ist halt… eigen. Der Rest muss sich dann ergeben. (Ich muss nämlich noch ordentlich zusammenkürzen, weil es eine Zeitvorgabe für die einzelnen Parts gibt, was ich nicht wusste. Nur die Gesundheit zwingt mich aktuell zur Prokrastination.) Allerdings: anhand dieser nasen- und hirnnebenhöhlenverstopften und dadurch, sagen wir, etwas unbekümmerten Ankündigung eine reine Spaßveranstaltung zu erwarten wäre auch ein Holzweg, wenn nicht gar Betonweg. Jupiter bin ich nämlich nur in meinem Blog, auswärts bin ich ein durchaus höflicher und seriöser Ochse.

Also, wen das alles noch nicht abgeschreckt oder zumindest allzu sehr irritiert hat: Jeder ist willkommen. Abendkleidung nicht nötig, zu essen und zu trinken gibt es meines Wissens ebenfalls nichts umsonst, auch wenn das Wort Soirée so verheißungsvoll klingt. Ich mache jedenfalls sehr gerne eine Soirée, viel lieber als eine Lesung. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 3 Euro - für wen auch immer das gilt; ich denke mal, für Schwerbehinderte, wie ich es eine bin, und so. (Ich komme allerdings ganz umsonst rein).

Montag, 26. September 2011

Mein aktueller Gesundheitszustand, September 2011


 Das Blöde mit den Antidepressiva ist, dass sie erst nach mehreren Wochen anfangen zu wirken. Zumindest die, die für mich in Frage kämen, also selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Grob zusammengefasst muss sich dabei das Hirn um die Herstellung seines Serotonins (das im Hirn einen gewissen Beitrag bei der chemischen Herstellung von Glück leistet) weiterhin schon selber kümmern, nur kursiert es länger im Hirn und kann sich nicht so schnell wieder aus dem Staub machen. Also eine einigermaßen durchschaubare Sache und kein Hexenwerk. Vor Jahren hatte ich damit eine Episode von ein paar Monaten, die ich in keiner schlechten Erinnerung habe. Trotzdem sage ich, dass ich zum Glück - und nicht leider - das Mittel damals bei einer längeren Reise zu Hause vergessen hatte und dadurch merkte, dass ich es gar nicht mehr brauchte. Jetzt frage ich mich seit Wochen, ob es an der Zeit wäre, wieder damit anzufangen. Oder ob ich aus meinem Loch, auf dessen Boden ich zurzeit hocke, mit eigenen Kräften herauskomme. Das einzige, was ich durch ein Antidepressivum zu verlieren hätte, wäre ein Bruchteil meiner Emotionen: Statt „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ gäbe es dann „mittelhoch jauchzend, recht betrübt“. Das wäre aber kein geringer Preis, wenn man alles, was das Leben noch zu bieten hat, bedingungslos mitnehmen will. In guten wie in schlechten Zeiten.

Vermutlich zögere ich die Entscheidung so lange hinaus, bis ich tatsächlich selbständig aus dem Loch rausgekrochen bin. Ich bin eigentlich schon dabei, die Wände sind allerdings etwas bröckelig, es mag noch dauern, bis der Halt so fest wird, dass ich mich mit einem großen Satz richtig rausschwingen kann. Wenn man ein Leben am Abgrund führt und immer wieder dort hineinschielt, um sich zu vergewissern, dass man mit der Bedrohung, die dort wohnt, einigermaßen zurecht kommt, ist es wohl nicht ungewöhnlich, dass man ab und zu tatsächlich hineinrutscht, hineingezogen durch das bloße Hineinschauen.

Das Irritierende bei der Sache ist allerdings, dass meine wirklich heftigen Stimmungstiefs selten länger als drei-vier Tage anhielten, danach wurde es mir zu langweilig. Diesmal bin ich zwar meistens nicht ganz unten, aber ziemlich weit unten. Wiederum nicht weit genug, um täglich zu weinen (so wie vor vier Wochen habe ich allerdings seit Jahren nicht geweint, zumindest nicht am Stück). Aber wiederum weit genug, um doch wenig heitere Gedanken und keinerlei Antrieb zu besitzen, von wenigen Tagen zwischendurch mal abgesehen. (Die mir jedes Mal zu der irrigen Annahme führen, ich wäre jetzt raus aus dem Loch.) Und das, wo mir meine Lebenszeit doch so teuer ist! Der Auslöser für den Absturz war der Besuch in Buchenwald, an diesem Tag ging es los. Die Ursache liegt vermutlich woanders, von denen gäbe es natürlich auch genug, zumindest objektiv betrachtet (was ein Widerspruch in sich ist, denn objektive Betrachtung gibt es nicht). Vielleicht ist es einfach nicht normal, so glücklich zu sein, so froh über sein Leben, wie ich es in den letzten Jahren meist war, und die Psyche verlangt Ausgleich „nach Norm“. Ich war dabei sicher kein Verdränger, mein Frohsinn stammte direkt aus der Dankbarkeit, überhaupt am Leben zu sein. Aber am Leben zu sein bedeutet ja auch mal unten zu sein. Ein Dilemma, das mein Körper vielleicht ohne mich gelöst hat.

Zu den handfesteren, leichter zu vermittelnden Ursachen. Ich hänge seit Wochen in der Luft, was eine neuerliche OP betrifft. Die letzte ist mir noch allzu gut in Erinnerung, das heißt eigentlich: allzu schlecht. Richtig auf die Beine gekommen bin ich seitdem nicht, die Regeneration hat noch nie so lange gedauert. Vor einigen Tagen begann ich sogar wieder Morphin zu nehmen, weil die Schmerzen offensichtlich doch keine Restzuckungen der Rekonvaleszenzphase sind. Ich schließe nicht aus, dass das Morphin bei mir die Niedergeschlagenheit verstärkt, ich bin nämlich nach der letzten OP, als ich zeitweise über 100 mg täglich einnahm, ebenfalls mehrmals beim Erwachen in Tränen ausgebrochen – sehr ungewöhnlich für mich, um nicht zu sagen: ein Novum. Eventuell sollte ich doch ein anderes Opiat ausprobieren, ich thematisiere das mal beim nächsten Arzttermin. Dass der Schmerz die Lebergefilde verlassen und höher gekrochen ist, mag von der unbewussten Schonhaltung bedingt sein. Von Lungenmetastasen war vor einem Monat im Röntgen jedenfalls nichts zu sehen. Eventuell sind es Verwachsungen, Vernarbungen oder Ähnliches, oder einfach das sogenannte Schmerzgedächtnis – mit der Quelle an der OP-Stelle -, dessen subtile Macht ich immer wieder beteuere. Oder es kommt davon, dass ich beim Kubbspiel letztens einen so guten Wurf machte, dass Martin mich vor Freude über die Schulter stemmte und kopfüberhängend mit mir herumtanzte. Ein Miniriss vielleicht, sozusagen. (Ja, es kann ein Segen und ein Fluch sein, wenn Menschen vergessen, wie krank ich eigentlich bin. Erinnert mich an eine Hochzeit, bei der mich Andreas freudestrahlend auf die Tanzfläche zerrte und mit mir eine wilde Polka hinlegte, von der ich mich während der restlichen Hochzeit erst langsam erholte. Aber was tut man nicht alles, um anderen nicht die Freude zu nehmen, insbesondere wenn man so überrumpelt ist, dass man gar nicht schnell genug schaltet, um sich zu retten. Oder wenn es zu laut ist, um sich deutlich zu machen.)

Zwar esse ich momentan wie ein Scheunendrescher (ein kleines bis mittelgroßes Modell) und bekomme meine Hosen, die ich mir in klapperdünnen Zeiten zugelegt habe, nicht mehr richtig zu. Mit der Ungewissheit im Großen muss ich mich schon lange herumschlagen, erfreulich lange. Aber die Ungewissheit im Kleinen schafft mich gerade. Dabei ist es gar keine Ungewissheit: Die Metastasen müssen mit dieser Hochfrequenzmethode noch mal angegangen werden, auch wenn das Risiko, dass die Gallenblase platzt, groß ist (nicht, weil der operierende Arzt nicht treffen würde - der ist, glaube ich, richtig gut in seinem Fach und genießt mein absolutes Vertrauen -, sondern wegen der Hitze). Alle anderen Methoden seien dasselbe in Grün, wenn nicht noch gefährlicher. Jetzt warte ich auf die nächsten Tumormarker, wenn die gestiegen sind, bin ich dran. (Mein Arzt, der die OP so nah an der Gallenblase anfangs für zu gefährlich hielt, sagte, nachdem er die CT-Bilder vom Krankenhaus bekam, dass es doch etwas schlechter aussieht als er gedacht hatte, weil er im Ultraschall diese Ecke immer ganz schlecht sehen konnte. Und dass er die OP deshalb befürworten muss.) Wenn nicht, habe ich noch Aufschub. Und vielleicht hilft ja vorher noch Afinitor, von dem ich nun die doppelte Menge nehme.

Weil ich manchmal gefragt werde, welche Therapie ich aktuell bekomme, in diesem Zuge gleich die gesamte Auskunft: Wie seit vielen Jahren schon, bekomme ich alle drei Wochen Herceptin; wenn die Leberwerte es zulassen, dann seit ca. einem halben Jahr auch Gemzar (meistens stürzen sie dadurch aber in den Keller, so dass die erwünschte Frequenz so gut wie nie eingehalten werden kann); diese beiden bekomme ich als Infusion. Subjektiv kann ich dabei keinerlei Nebenwirkungen feststellen. Seit Herbst 2008 nehme ich täglich Tyverb, mit der einzigen Nebenwirkung von Durchfällen, die mit Imodium gut in Griff zu halten sind. (Zudem ist eine starke Verstopfung unvergleichlich unangenehmer als ein starker Durchfall.) Im Herbst 2008 sah es mit mir so schlecht aus, dass ich dem Tod in ein paar Monaten entgegensah. Und auch wenn ich nicht so gerne mit Superlativen um mich schmeiße, möchte ich es hier fast tun. Damals brachte dieses Mittel jedenfalls die Wende, innerhalb eines Monats waren die Metastasen fast verschwunden. Auch umgekehrt ist das Tempo bei mir allerdings alles andere als gemächlich: Wenn die Metastasen wiederkommen, dann wie ein Tsunami. Die Teilungsfreude meiner Krebszellen ist nämlich ungemein, ich bin ja auch u.a. dreifach HER2/neu-positiv.

Leider hat Tyverb mittlerweile die Wirkung verloren, es ist aber deshalb noch lange nicht ratsam, es abzusetzen, genauso wenig wie man Herceptin absetzen sollte. Die Rezeptoren, die diese blockieren sollen, sind ja weiterhin da. Nur nehme ich momentan von Tyverbtabletten statt fünf nur vier Stück (1000 mg), um dem Organismus nicht zu sehr zuzusetzen. Und als viertes Mittel nehme ich täglich 10 mg Afinitor, das zwar nur für das Nierenkarzinom zugelassen ist, aber in solchen weitgehend austherapierten Fällen wie der meine darf man das ausprobieren. Der Erfolg war zumindest einige Monate lang da, mal sehen, was die höhere Dosis nun macht. Der befürchtete Husten als Nebenwirkung, der schnell zu einer Lungenentzündung übergehen kann, ist bislang, toi, toi, toi, ausgeblieben. (Haa, daher aber vielleicht meine Atembeschwerden! Das Naheliegende habe ich links liegen gelassen, war wohl zu nah.) Vor ein paar Wochen waren die Tumormarker ungefähr gleich geblieben, was man ebenfalls als Erfolg bezeichnen kann. Auch wenn ich ehrlich gesagt durch die Entfernung von so viel Tumorgewebe in der Leber mit einem deutlichen Sinken von Tumormarkern gerechnet hatte.

Einen so sachlich-negativen Blogbeitrag über meine Gesundheit habe ich wohl noch nie geschrieben. Sei’s drum, so ist nun mal die aktuelle Lage. Morgen fliegen Steffen und ich jedenfalls nach Barcelona, um meine ganz alten Freunde aus Aachener Zeit, Mona und Olivier zu besuchen, die jetzt in Sitges leben, direkt am Meer. Ich freue mich so sehr auf die beiden und die andere Umgebung und erhoffe mir dadurch andere Gedanken und neue Impulse. Die Tumormarker lasse ich zu Hause. Die Metastasen auch. Oder nein. Die Metastasen nehme ich mit, lasse sie aber dort. Ja, so machen wir es. 

Warum neue Liste?

So wie es aussieht, wäre das richtige Anknüpfungsthema jetzt die Talkshow „Unter uns“ in Weimar, wo ich allerdings, wie es mir erscheint, irgendwann im letzten Sommer war, so ewig weit weg ist es für mich. Aber was soll’s, ich erzähl’ dann mal.

Also, ich war in Weimar bei der Talkshow „Unter uns“, irgendwann letzten Sommer. Soweit ich mich angesichts der verstrichenen Zeit erinnere, war es wieder mal eine schöne Erfahrung, die Menschen vor und hinter den Kulissen äußerst angenehm, das Klima nicht nur freundlich, sondern geradezu familiär, ich fühlte mich von vornherein so gut aufgehoben, dass ich wider jegliches Erwarten mich kurz vor der Sendung mit gefüllten Eiern und Honigmelone vollstopfte (ja, ich weiß, eine unter Umständen etwas merkwürdige Kombination, zumal ich in den Wochen davor als Folge der OP kaum Appetit hatte) und meinen Auftritt danach trotzdem quasi mit links über die Bühne brachte. So hat es angeblich zumindest ausgesehen. (Bei diesen sympathischen Moderatoren war es tatsächlich keine so hohe Kunst. Zumal ich immer den alten Rat beherzige, dem, mit dem man gerade spricht, in die Augen zu schauen, als würde das Gespräch in meinem Wohnzimmer stattfinden. Klingt zu einfach, wenn man es aber ganz treuherzig befolgt, kann es klappen.) Der einzige heikle Punkt war, dass einer der Kameramänner oft so dicht hinter mir stand, dass ich stets befürchtete, dass er mir bei einem Schwenk die Perücke vom Kopf fegen würde. Tat er dann doch nicht.

Je aufwändiger ein Auftritt – Hinfahren, Dasein, Erzählen, Heimfahren -, desto bereichernder für mich. Wie sehr ich wiederum andere bereichert habe, weiß ich nicht, aber die Briefe daraufhin waren wieder sehr, sehr nett. Zumindest die längeren und persönlicheren habe ich wie immer auch alle beantwortet. Jedenfalls war diese Sendung alles in allem eine schöne Sache.

Am nächsten Tag war all das nichtig. Da wir neben der Städtebesichtigung (Weimar und Erfurt) noch etwas „Kulturelles“ machen wollten, fuhren wir zu der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Ich hatte es schon vor 30 Jahren einmal gesehen, Steffen wollte diese Bildungslücke noch schließen, und obwohl ich es gar nicht unbedingt vorhatte, machte auch ich die komplette Runde, setzte mich einer zyklischen Erinnerung aus. Wäre ich in Estland geblieben, wüsste ich vermutlich nur einen Bruchteil davon, was jedem, der in Deutschland nicht gerade mit Tomaten auf den Augen durch das Leben stolpert, hier unweigerlich immer wieder in Wort und Bild begegnet. So glaubte ich, diesbezüglich weitgehend vorbereitet zu sein. Und doch traf mich dieser Ort mit einer Wucht, die ich nicht erwartet hätte.

Ich war davon ausgegangen, dass es einfach wie mit einem Buch sein würde, die man nach zig Jahren mit einem neuen Blick und Erfahrungsstand liest. Nun stellte ich aber fest, dass wichtige Passagen in Milchschrift verfasst worden waren. (Jeder, der als Kind Spionageromane gelesen hat, weiß, dass man Milchschrift mit heißem Bügeleisen lesbar machen kann. Und mein Bügeleisen war meine Nase an der Vitrine, die nicht Zitate und Auszüge enthielt, sondern Originaldokumente, mit all ihren Unzulänglichkeiten und Tippfehlern. Obwohl das Glas dazwischen war, schien das fast Haptische von entscheidender Bedeutung zu sein. Man könnte darüber wieder leicht ins Sinnieren über das digitale Zeitalter kommen, wenn man möchte. Ich möchte, tue es aber nicht.) Wenn damals das Gegenständliche mein kindliches Interesse einfing – die Schuhe, die groben Jacken, deren Muff man noch durchs Glas zu riechen glaubte, auch wenn sie sicher längst behutsam chemisch gereinigt worden waren, die armseligen selbstgebastelten Kämme und Rasierpinsel -, verbrachte ich diesmal also die meiste Zeit damit, Dokumente in Maschinenschrift zu lesen, die ich damals keines Blickes gewürdigt hatte. Wieder stellte ich fest, dass ich mittlerweile bevorzugt entweder sehr groß oder sehr klein denke. Das Große schwang selbstverständlich sowieso mit, aber das Kleine erschütterte mich ungleich mehr - die Wortwahl der Lageroberen, diese gutgelaunte Arroganz des Chefs eines „gutgehenden Geschäfts“. (Auch wenn dieser in der nächsten Vitrine schon selbst tot war, hingerichtet.) Die Parallelwelt in der Sozialstruktur wie im Schriftwechsel – hier die armseligen Mitteilungen der Gefangenen, dort die Beschwerden der Lageroberen, dass die eigenen Leute zu fett seien und entweder mehr körperliche Übungen machen oder „den Maulkorb höher hängen“ sollen. Und bitte nur noch die edelsten Lokale aufsuchen statt in solchen SS-Angehöriger unwürdigen Spelunken zu verkehren (Liste anbei), und die Ehefrauen sollten doch bitte zahlreicher an den gemeinsamen Vergnügungen teilnehmen. (Ist doch klar, eine bunte Reihe ist immer netter, wem würde das nicht einleuchten?) Nebenbei erfuhr ich, dass der Gefangene X zwar generell ein „rechter Lausbub“ sei, sich diesmal aber einen wirklich „fetten Brocken geleistet“ habe. Wie leicht und heiter das alles, ganz wie auf dem Foto „Papa macht Witzchen“.

Immer wieder blitzten (im wörtlichen Sinne) in den Schreiben die zwei zusammengepferchten Buchstaben SS auf – zwei Blitze. Ich stelle mir vor, wie die Schreibmaschinen umgestellt werden mussten, wie zahlreiche Briefe hin- und her geschickt wurden mit dem Befehl, ab sofort und für die nächsten tausend Jahre die Produktion dahingehend umzustellen, dass nur noch mit diesem Symbol ausgestattete Schreibmaschinen für den Dienstgebrauch ausgeliefert werden durften. Wie lächerlich die Entstehungsgeschichte mancher Symbole, wie spielerisch ihr Ursprung, auch wenn dieses spezielle Corporate Design in rein kreativer Hinsicht auf recht dünnen Beinchen daherkommt ("Ja, schon verstanden, das S muss ganz eckig und entschlossen wirken, ein zackiges, zorniges S sieht aus wie ein Blitz, und Blitz fanden wir ja schon immer gut - "Blitzkrieg", "Blitzsieg" -,nun können wir sogar zwei Fliegen mit einer Klappe... äh, Taste schlagen, wo nehmen Sie bloß immer diese Ideen her?") Und wie gefährlich ihre Macht, hat man die banalen Umstände ihrer flächendeckenden Einführung erst mal vergessen.

Die Symbole, die (Schrift)Zeichen, das Kleine, das mich erschütterte, konnte diesmal aber nicht klein genug sein. Das, was in Erinnerung bleibt, ist meist sowieso schwer beeinflussbar, in diesem Fall muss ich immer noch und immer wieder an eine bestimmte Namensliste denken, von denen es dort an sich nicht gerade wenige gab.

Das erste Drittel der Namen in dieser Liste war entweder mit Punkten oder Häkchen versehen, um den Rest darunter hatte jemand mit roter Tinte eine lange Eckklammer gesetzt und in flotter roter Schrift längs hinzu geschrieben: „Neue Liste“. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf. Warum neue Liste? War es gut, da drauf zu kommen? Waren etwa die Ofenkapazitäten gerade ausgeschöpft? Bedeutete das Aufschub, und wenn ja, wie lange? Einen Tag, eine Woche, oder kam jemand von der neuen Liste gar davon?

Und warum waren oben neben manchen Namen Punkte, bei anderen aber Häkchen? Mit Bleistift gesetzt, nicht mit Tinte, also noch korrigierfähig? Hieß Häkchen: „So, jetzt reicht's mir, der kommt nun endgültig weg, hat mir schon lange genug Kopfschmerzen bereitet mit seiner Frechheit“. Oder hieß es schlicht: „Ist mittlerweile schon von allein verstorben“? (Warum bin ich mir überhaupt sicher, dass Häkchen Tod bedeutete und Punkt irgendwie besser war?) Warum waren manche Punkte größer als andere, gerade so, als wäre der Schreiber mit seinem Bleistift bei Betrachtung des Namens in Gedanken versunken, hätte gezögert und immer länger herumgekritzelt, bis der Punkt fast ein Ball wurde. Hieß es: „Hm, soll der jetzt wirklich weg mit dieser „Lieferung“ oder lassen wir den noch ‚ne Weile hier…“

Oder war es alles ganz anders und gerade ein Ball-Punkt zeugte von Selbstzufriedenheit beim Auslöschen eines bestimmten Lebens, während ein unentschlossener, unscheinbarer kleiner Punkt eine Rettungsoption darstellte? (Und warum glaube ich immer noch, dass Häkchen am schlechtesten war?) Es waren jedenfalls zwei Leute am Werke: einer mit Bleistift, der andere mit roter Tinte. Wer entschied, und was entschied derjenige? Bleistift gegen Tinte, aber wer sagt, dass die eigentliche Entscheidung der Tintenmensch traf? Das wäre womöglich zu kurz gedacht. Vielleicht musste einfach eine neue Liste her, weil der untere Teil nicht in alphabetischer Reihenfolge war, und das mit der flotten Tintenschrift war die Sekretärin, die es gerade entdeckte. Ja, vielleicht steckte da gar nicht mehr dahinter. Oder doch ein ganzes Leben, gar mehrere vielleicht? Ja, was war bloß mit dieser "Neuen Liste"?

Freitag, 19. August 2011

Medienhinweis

Nächste Woche am Freitag, den 26.8 bin ich in der MDR-Talkshow „Unter uns“ zu Gast. Gesendet wird aus Weimar ab 22 Uhr, mein Gesprächspartner wird Axel Bulthaupt sein. Steffen geht zum ersten Mal mit, wird aber nach eigenem Bekunden „irgendwo im hintersten Eck sitzen“, mit Emili, und „nix sagen wollen“. Ja, ist ja gut, Steffen. 
Es ist wieder eine völlig neue Erfahrung für mich, weil ich diesmal nicht allein dastehe oder –sitze, sondern in einer richtigen Runde, wie das in Talkshows ja so üblich ist. Steffen und ich hängen noch einen Tag dran in Weimar und können rein zufällig den Geburtstag Goethes am Sonntag mitfeiern. Was immer das dann bedeuten mag – ein Bier auf ihn trinken oder so vielleicht. Wobei er in Weimar nicht geboren, sondern gestorben ist. Hm.

Zwei Wochen knapp oberhalb des Existenzminimums oder: Wieder auf dem Weg zur Menschwerdung


Wie der Titel schon sagt, verbrachte ich meine letzten Wochen eher im Zustand der Vegetation. Es war eine zähmassige, dumpfe, in Wachmomenten qualvoll schmerzende Zeit. Eine Zeit größtenteils im Nebel, aber nicht in einem freundlichen Nebel, der seinen im wörtlichen, wenn auch doppelt gemoppelten Sinne palliativen Mantel (‚pallium’ ist im Lateinischen ‚Mantel’, Palliativmedizin demzufolge Medizin des liebevoll mit einem Mantel Bedeckens) über einen breiten würde, sondern ein Nebel der Unsicherheit, etwas, worin man hilflos tappt, ein zähflüssiger, schmutziger Nebel, der einem den ebenso zähen Verstand aus dem Körper saugt, so dass dieser ebenfalls irgendwo im Nebel um den Kopf herum eiert.

Es ist fast intellektuell beleidigend, wie einfallslos Morphinträume sein können: dumb, eintönig, handlungs- und inhaltsarm bis zur Unerträglichkeit, dafür aber ewig lang. Man pult zum Beispiel den halben Tag lang im Traum einen Aufkleber vom Apfel, der geht und geht nicht ab, man muss ihn aber unbedingt abmachen, es ist ganz wichtig, also pult man weiter, immer weiter, kommt irgendwann langsam zu sich und denkt: Was für ein Schwachsinn, gut, dass ich aufgewacht bin. Und: Es muss mittlerweile Abend sein, denn vorhin wurde es langsam hell, nun ist der Tag wohl rum, auch gut. Man macht die Augen auf und sieht den Morgenkaffee auf dem Tablett. Der Tag steht einem also erst bevor, so was Blödes. Dann kommen wieder die Schmerzen, man kramt mit schlecht koordinierten Fingern seine Medikamente aus der Fächerdose neben dem Plastikgeschirr, dämmert wieder weg und fängt an, im Traum nach irgendeinem bestimmten Stift in der Schublade zu suchen, oder ein Tuch zusammenzufalten, aber der Wind weht oder das Tuch fällt ständig runter oder ändert seine Form. Stundenlang wurstelt man herum, ist schon todmüde davon, bis plötzlich der Pfleger mit dem Fiebermesser dasteht, der immer unmittelbar nach dem Frühstück kommt. Oder ist das der mit dem Blutdruckmessgerät oder wer. Egal. Die Gesichter kommen und gehen, die höfliche Vorstellung, wer sie sind und was sie mit mir vorhaben, könnten sie sich in einer solchen Phase eigentlich eh sparen.

Bis es aber größtenteils neblig und damit weniger schmerzhaft wurde, dauerte es Tage, weil die Schmerzmedikation so schwer in Gang kam. Jedes Mal das Gleiche, dabei hatte ich diesmal nach meiner Meinung wirklich toll vorgesorgt. Ich habe bereits vor dem Eingriff jedem, aber wirklich jedem, der mir irgendwie befugt vorkam (also mein Zimmer nicht zum Putzen betrat), eindringlich erklärt, dass es ganz, ganz wichtig ist, frühzeitig die richtige Dosis zu finden, wir dürften auf keinen Fall zu lange dem Schmerz hinterher rennen, weil sonst bei mir das Schmerzgedächtnis entsteht. Also „geben Sie mir ordentlich“, ich will bitte, bitte nicht wieder große und andauernde Schmerzen haben.

Stattdessen scheine ich im Vorfeld überall herumerklärt zu haben: „Wissen Sie, ich werde von Außerirdischen abgehört, weshalb es ganz wichtig ist, dass jegliche Kommunikation mit mir durch eine leere Toilettenpapierrolle erfolgt, denn das stört ihre Abhörfrequenz. Alternativ kann ich Ihnen anbieten, für jegliche Unterhaltungen unter mein Bett zu krabbeln – ich würde dann durch das Kopfkissen nach unten zu Ihnen sprechen -, oder aber beim Sprechen einen Motorradhelm zu tragen.“ Jedenfalls half meine prophylaktische Breitband-Aufklärung nichts, diese Energie und verlorene Liebesmüh hätte ich mir einfach sparen können. Es war eine weltfremde Utopie gewesen, wie der Kommunismus (letzterer allerdings zurecht). Und meine Mündigkeit kann ich mir wieder sonst wohin stecken. An den Hut. Oder dem Hasen geben (schwäbisches Sprichwort, das ich nie verstanden habe), soll der sie sich an den Hut stecken. Jedenfalls: Tagelang taten wir genau das, wovor ich warnte: dem Schmerz mit zu niedrigen oder zu kurzfristig wirksamen Schmerzmitteldosen hinterher rennen.

Dies war allerdings zum Teil auch dadurch bedingt, dass mehrmals ein ärztlicher Vermerk über die nächtliche Schmerzmedikation in meiner Krankenakte vergessen wurde. Deshalb musste ich mehrere Abende hintereinander von der Nachtschwester hören: „Ich bin nicht befugt, es steht nichts im Buch, ich kann Ihnen nur Novalgin geben“. Eine Ärztin, die es mal vergessen hatte und die sich verabschiedete mit „Ich habe es schon eingetragen“, bat ich tatsächlich, mir diesen Eintrag zu zeigen. Was sie verblüfft auch tat. Ein Eklat, gewiss. Aber man wird halt paranoid, wenn man zum widerholten und dann abermals widerholten Male viele Stunden lang mit Schmerzen darniederliegt, völlig macht- und hilflos. Ja, ja, natürlich haben Ärzte überall viel zu tun, ich bin ja nicht von gestern, und sicher werden sie tatsächlich kommen, irgendwann. ("Gleich" ist für mich mittlerweile ein Reizwort, es wäre mir lieber, zu erfahren: In den nächsten fünf Stunden passiert hier erst mal nix, das wäre wenigstens Gewissheit und demzufolge eine Art Entspannung.) Denn ich wiederum habe doch so viel Schmerz hier, der so einfach zu beseitigen wäre, mit Arbeit von Sekunden …

Als ich einmal vor lauter Verzweiflung eigenmächtig einige von Zuhause mitgebrachte Morphintabletten einwarf und dies der Ärztin, die die schriftliche Erlaubnis für die nächtliche Medikation vergessen hatte, auch noch sagte, handelte ich mir eine Rüge ein: „Bitte keine Medikamente ohne Absprache“. Ich sagte: „Natürlich nicht, aber es war mir irgendwann einfach egal, der Schmerz war stärker.“ Zumindest von meiner Seite wird auch künftig immer Transparenz herrschen, ich verschweige doch nicht eine Eigenmedikation auch unter Gefahr, getadelt zu werden.

Noch erinnere ich mich, dass eine ganz junge, sehr liebe Krankenschwester auf meine wiederholte vergebliche Bitte um Schmerzmittel eines Nachts sagte: „Aber ich könnte Ihnen eine schöne warme Milch mit Honig machen“. Vor Rührung über eine so reine, unberührte, naive Seele fing ich an zu heulen. Immerhin griff sie daraufhin zum Telefon und rief tatsächlich den Arzt an, der irgendwo im Haus unterwegs war. Überhaupt wäre das Einfachste, nachts einfach laut herumzuschreien, so dass keiner auf dem Flur Ruhe hat. Dann würde sofort einer kommen, ich bin mir sicher. Aber man ist ja vom nordeuropäischen Kulturkreis geprägt, da macht man so was nicht, außer man ist tatsächlich von Sinnen.

Ach, es ist so zermürbend, auch nur daran zu denken, ich wollte auch eigentlich gar nicht so viel darüber schreiben, aber ich schreibe eh immer was anderes als ich vorhabe. Überdies ist das Krankenhaus eigentlich das beste, in dem ich bisher verweilen durfte. Nur, wo ich doch im letzten Beitrag von Spaziergängen sprach: meine Brustablation mit Messer (und Gabel, nein, ich meine, mit Messer und allem Drum und Dran, wie man sich eine richtige klassische, brutale Operation vorstellt) - DAS war ein Spaziergang im Vergleich zu dieser Hochfrequenzablation in der Leber. Dies hier ist wirklich nichts Schönes, stehe im Internet dazu was wolle.

Aber jetzt mal wieder sachlich werden.
Der Eingriff an sich verlief wohl erfolgreich, die Metastasen im rechten Leberlappen sind also schön weggekocht worden. Leider hat man im linken Lappen in zwei Segmenten, nahe dem Herzen und der Gallenblase, weitere Metastasen entdeckt, die man nun in ca. 4 Wochen gerne ebenfalls wegmachen möchte. Ich wäre die auch sehr gerne los, weiß aber nicht, ob ich es physisch und psychisch so schnell wieder packe. Im Moment kann ich es mir jedenfalls nicht vorstellen, zumal dies dann tatsächlich „kein Spaziergang“ sein wird, sondern eine recht heikle Sache mit hoher Verletzungsgefahr, die Prozedur müsste auch irgendwie anders durchgeführt werden, aber wie genau - diese Information einzuholen habe ich mir bisher verkniffen, selbst das packe ich gerade nicht.

Ach ja, ganz vergessen: Natürlich bekam ich auch wieder eine Infektion, weshalb mir ein Breitbandantibiotikum verschrieben wurde, zusätzlich zu einem anderen, (Schmalband?)Antibiotikum. Mein Tablettenpensum war irgendwann so riesig, dass ich das Gefühl hatte, meine Haut und ich selbst atmete Gift aus und wenn ich den Mund öffnete, würde dort eine lumineszierende Wolke herrausschweben wie bei einem Comic-Drachen. Nicht weiter überraschend, dass ich wieder ordentlich Gewicht verloren habe, weil ich nichts bei mir behalten oder auch nur schmecken/riechen/sehen konnte. Naja, es werden wieder Cortisonzeiten kommen, da kommt der (ungesunde) Appetit von allein. Die für diese Woche geplanten Chemos habe ich aber abgesagt, bin noch in einem zu desolaten Zustand.

Wie weit weg und surreal mir mittlerweile die schönen Wochen in Namibia erscheinen! Die Realität ist wieder da. Aber mir ist bewusst, dass sich solche Luxusgedanken wie „Ich bin noch nicht bereit für eine zweite OP“ sich nur jemand leisten kann, dem das Wasser nur bis zum Kinn steht, nicht bis zur Nase. Und mir steht das Wasser momentan nur bis zum Kinn. Das Leben ist also (erst mal wieder) schön.

Dienstag, 2. August 2011

Zurück aus Namibia oder: Mein Gesundheitszustand Juli 2011


Ich bin zurück aus Namibia, schon seit zwei Wochen eigentlich, und der Alltag hat mich seit ebenso langer Zeit in seinem Griff. Bei anderen bricht der Alltag mit dem ersten Arbeitstag ein, bei mir wie immer mit der ersten Chemo. Immerhin hatte ich diesmal einen Tag Schonfrist, ich bin auch schon mal mit Affenzahn vom Flughafen direkt zur Chemo gefahren.

Ich habe ja immer posaunt, wie gut mein Blut und ich selbst nach jeder Reise beisammen sind. Zwar bin ich in Namibia regelrecht aufgeblüht, ich fühlte mich dort so lebendig wie schon lange nicht und spürte nichts von der unerfreulichen Entwicklung in meinem Innern, aber „subjektiv“ und „objektiv“ waren ja schon immer zwei Paar Schuhe. Bestand vor der Reise eine minimale Resthoffnung, dass der plötzliche rasante Anstieg der Tumormarker etwas mit meiner Allergie gegen Unbekannt zu tun hatte, ist diese Hoffnung längst verschwunden. Meine Tumormarker haben eigentlich schon immer korrekterweise und ihrem Namen entsprechend Tumortätigkeit angezeigt, mit Entzündungen oder sonstigen Irritationen halten sie sich nicht auf. Die Tumormarker sind also wieder gestiegen, die Metastasen gedeihen wieder prächtig, zumindest zwei davon, die Chemo scheint also abermals die Wirkung verloren zu haben. Deshalb wird zur Abwechslung mal wieder die Hochfrequenz- bzw. Radiofrequenzablation durchgeführt, zum dritten Mal mittlerweile.

Das erste Mal war grauenvoll, geradezu traumatisch für mich, natürlich nicht vergleichbar mit der Thailandsache, aber ich erinnere mich gut, wie ich während der Fahrt in den Aufwachraum zwischenzeitlich wach wurde und „Ich kann nicht atmen! Ich kann nicht atmen!“ schrie. Ich war in dem Moment ziemlich überzeugt, dass mein Brustkorb bei dem Atemzug, der in spätestens zehn Sekunden unausweichlich sein wird, zerplatzen würde, so schrecklich war der Schmerz. Der Brustkorb ist zwar nicht zerplatzt, aber ich hielt weiterhin meinen Atem vor jedem Zug so lange an wie möglich, weil das Einatmen noch ein wenig schrecklicher war als das Ausatmen. Was meinen Sauerstoffbedarf natürlich noch mal erhöhte und dadurch jeden Atemzug noch quälender machte, und so weiter, das altbekannte Prinzip eines Teufelskreises. Dabei neige ich normalerweise nicht zu Panikattacken, zumal zu solchen, die mit Schreien in der Öffentlichkeit, also in einem Krankenhaus, verbunden sind. Zum Glück wirkte irgendwann das Schmerzmittel, aber die Zeit bis dahin war, um nicht zu viele verschiedene Adjektive zu bemühen, schrecklich. Das zweite Mal war auch schrecklich, aber mehrere Prozentpunkte weniger.

Auch wenn durch diese Methode des „Verkochens durch die Hitze“ die Metastasen nicht für immer wegbleiben, ist sie für Unsereins ein regelrechter Segen, denn sie kann zum Teil die früher üblichen Leberoperationen ersetzen, bei denen der Bauch aufgeschnitten werden musste, das umliegende Gewebe wird auch weniger in Mitleidenschaft gezofen. Allerdings ist mir ein Rätsel, warum sie von den meisten durchführenden Kliniken als Spaziergang dargestellt wird: unkompliziert, kaum Nebenwirkungen, Narkose meist nicht nötig, der Patient in der Regel nach wenigen Tagen oder gar 24 Stunden wieder daheim… Nichts davon kann ich bestätigen. Zwar muss ich die ersten 20 Minuten halbwegs bei Bewusstsein bleiben, während derer ich total genervt bin, weil ich unendlich müde bin und keine Lust habe, „ansprechbar“ zu sein. Ich kriege nicht nur das Werkeln an meinem Oberbauch mit, sondern zum Teil, zumindest beim ersten Mal, auch die Schmerzen. Aber danach kommt die Erlösung („Fünf, vier, drei…“) und ich bin weg. Meiner Kenntnis nach nennt man das nicht „lokale Betäubung“, auch eine Sedierung ist ja eigentlich was anderes. Narkose, wenn auch eine leichte, würde es meiner Meinung nach korrekter definieren. (Okay, vielleicht lässt irgendein Verrückter das unter lokaler Betäubung und unter Beruhigungstabletten machen, glauben kann ich es nicht.) Desweiteren: Beim ersten Mal lag ich zehn Tage im Krankenhaus, zum Teil allerdings dadurch bedingt, dass ich eine Infektion mit hohem Fieber bekam. Das zweite Mal war ich schneller draußen, nach meiner Erinnerung nach vier-fünf Tagen, aber auch nur, weil ich dem Personal ein- und aufdringlich versicherte, ich fühlte mich super und würde zu Hause rumhüpfen wie ein junges Rehlein. Mein Schmerzmittelbedarf in den darauffolgenden Wochen war enorm und erst als ich statt dem Normalmorphium Morphium Retard bekam, konnte ich die Schmerzen auch wirklich kontrollieren. Wie es diesmal sein wird, weiß ich nicht. Aber da ich ansonsten genau so verfahren will wie letztes Mal, beziehungsweise vorhabe, am Wochenende wieder zu Hause zu sein, weil ich offiziell in meiner Wohnung herumhüpfen werde wie ein junges Rehlein, hoffe ich, dass niemand vom Krankenhauspersonal meinen Blog liest. Und noch hoffe ich, dass die MRT morgen nicht irgendeine Kontraindikation zeigt und die Sache überhaupt durchgeführt werden kann. Es dürfen nämlich nicht zu viele Metastasen sein, sie dürfen nicht zu blöd sitzen, wo die Verletzungsgefahr vom Wichtigem in der Umgebung zu groß ist und Ähnliches. Und wenn es doch nicht gehen sollte, tja, dann bin ich schon morgen wieder zu Hause. Das wäre bitter, denn das bedeutet wieder eine Möglichkeit weniger, diese verdammten Metastasen zumindest für eine Weile loszuwerden.

Das wurde jetzt doch eher ein Gesund- bzw. Krankheitsbeeitrag als ein Namibiabeitrag. Das Problem mit Namibia: Es war zu überwältigend, ich weiß einfach nicht, wo anfangen oder was rausgreifen, und so geht das seit zwei Wochen, während jeder Tag und jede Aktion mich immer mehr davon entfernt. Es prasselt und prasselt täglich Neues auf mich nieder, es war auch viel Schönes und sehr Schönes dabei in den letzten zwei Wochen, man könnte es fast Freizeitstress nennen. Daneben gab es zwar auch einige graue, geknickte und apathische Tage, in denen ich um das Grübeln aufgrund der neuerlichen Verschlechterung der Situation nicht herumkam. Aber dass ich Namibia erleben durfte, erfüllt mich mit einer abgrundtiefen Dankbarkeit. Ich bin vermutlich zu voll davon, um schon zu teilen oder etwas davon auszuschütten – muss wie bei einem zu vollen Wasserglas erst mal einen Schluck wegtrinken. Nach dem Krankenhausaufenthalt werde ich aber zumindest ein paar Bilder reinstellen.

Donnerstag, 30. Juni 2011

Ich sehe nicht mehr aus wie ein Schwein


In den letzten fast zwei Wochen sah ich aus wie ein Schwein und konnte weder lesen noch schreiben. Das, was ich für eine schmerzhaft-juckende Augenentzündung hielt, erstreckte sich irgendwann über den ganzen Kopf und Hals und besserte sich ganz langsam erst, als ich die Methoden á la „Was die Großmutter noch wusste“ dann doch beiseite schob und eigenmächtig eine innerliche Kortisontherapie begann (mein Arzt war im Urlaub). War wohl auch genau richtig (er ist mittlerweile wieder da). Da die Augen für Tätigkeiten wie Lesen,  Schreiben oder Fernsehen völlig ausgefallen waren (also im übertragenen Sinne), ich selbst gesellschaftsunfähig und –willig war und mein Gesicht weder kratzen durfte noch sonst was tun konnte, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, beschloss ich irgendwann, die negative Energie einfach in positive umzuwandeln: Ich habe geputzt wie ein Wahnsinniger. Und das über Tage. Endlich spüre auch ich das Erfolgserlebnis einer wahrhaft ehrgeizigen Hausfrau: Jeden Winkel, und sei er noch so dunkel, jede Ritze, und sei sie noch so schmal, sauber zu haben. Steffen hatte Glück, dass er während dieser Tage in Berlin war, sonst wäre er ziemlich genervt gewesen und der Haussegen hätte vor so viel Unordnung im Namen der bald eintreffenden Superordnung mehr als schief gehangen.

Für das nächste Mal, falls dieses in dieser obsessiven Form je wieder kommen sollte, habe ich wohl sogar schon die musikalische Untermalung parat: Anfangs, wenn man voll jugendlichen Elan ist, kommt Hoss Boss rein (bei denen waren wir zweimal auf Konzert, schon als sie ganz „klein“ waren), wenn man sich fröhlich in Rage geputzt hat, dann Prodigy (bei denen waren wir auch, aber da waren sie schon groß), zwischendurch auch mal den lustigen singenden Rabbi, den Anne mir kürzlich schickte, und wenn der nicht mehr wirkt, dann wieder Prodigy. Größtenteils gute Laune und guter Arbeitseffekt.
Kommt man langsam zum Nachdenken, ob man eigentlich bescheuert ist, in einem solchen Tempo zu arbeiten und wo, beziehungsweise eher: ob man eigentlich weitermachen soll, ist Zeit für Beständigkeit, aber immer noch fröhlich, d.h. Abba, Tropicalia, oder zum Beispiel Fanta Vier: „Du wirst geboren, was machst du draus. Baust ein Haus, ziehst da rein, schaust da raus, atmest ein und atmest aus.“ Genau. Schon geht das Schrubben besser, aber so, dass der Arm nicht mehr so Weh tut.
„Was ist der Sinn? Ist da noch mehr?“ Diese Frage ist bei mir wohl ständig präsent, täglich, mehrmals, selbst wenn ich nicht daran denke, das heißt, nicht explizit in meinem Kopf formuliere. „Wo gehen wir hin? Wo kommen wir her?“ Gute Frage, wichtige Frage. Aber heute putze ich.
Miles Davis ist für klares Wasser und weiche Tücher vorgesehen, oder wenn man schon was für zwischendurch zu bewundern hat. Angelo Branduardi auch, aber der könnte einen dazu bewegen, die eine Fläche nochmal zu wischen, die aus der Ferne nicht mehr so glänzt, deshalb am Ende nur noch Miles Davis, der ist Vollendung. Ich könnte jetzt mein ganzes Musikprogramm und die benutzten Mittel aufzählen, aber meine immer noch geschundenen Augen tränen schon wieder und eigentlich wollte ich erzählen: Ich fliege morgen nach Namibia. Ich habe ein Fernweh, das geht auf keine Kuhhaut. Spontan gebucht wie fast immer, das ist halt bei mir und Steffen situationsbedingt so. Allen Unkenrufen zutrotz („Etosha musst du ein Jahr im Voraus buchen!“) steht zumindest die erste Hälfte der Reise, inkl. drei Übernachtungen in Okaukuejo (am angeblich besten Wasserloch in Etosha), den Rest müssen wir dann schauen. Es ist ja keine „Hummeldumm“-Busreise, sondern Allradmietwagen und Individual.

Namibia fasziniert mich seit Langem, ich war übrigens noch nie in Afrika  (Ägypten zählt ja nicht) und fühle, dass meinem Weltbild deshalb ein zu großes Puzzleteil fehlt. Die Wiege der Menschheit. Ich sehe mich deshalb irgendwie in Embryostellung auf warmer Erde Afrikas liegen, vielleicht in der Wüstengegend oder im Damaraland, oder im Kaokoveld. Vermutlich werde ich dort in Wirklichkeit nirgends herumliegen, noch weniger in Embryostellung, auch wenn es so menschenleer ist, dass es keineswegs Aufsehen erregen würde, außer bei Steffen vielleicht. Der mich dann vor Skorpionen, Schlangen, Spinnen warnen würde (zurecht) und fragen würde, wie lange ich so wohl liegen bleiben will und wann wir weiter fahren. Aber mein Herz ist so voller Vorfreude, dass ich nicht weiter von meinen mit diesem Land verbundenen Vorstellungen erzählen will, ich muss nämlich noch was machen, bevor ich gleich schlafen gehe.

Gepackt habe ich noch nicht, es existiert allerdings ein ansehnlicher Haufen auf dem Boden, der nur irgendwie in die Tasche muss. Da ich meine morgige Chemo zum Glück auf heute verschieben konnte („Ja, was du morgen könntest besorgen, das verschiebe besser auf heute“. Warum hier der Reim auf der Strecke blieb, weiß ich grad’ nicht. Und warum meine Tumormarker plötzlich auf das Dreifache gestiegen sind, weiß ich noch weniger. Aber ich verweigere mich momentan, meiner Reise durch diese Nachricht auch nur ein Mikrogramm Vorfreude nehmen zu lassen. Vermutlich habe ich zu lange keine größere Reise unternommen, das wird's sein, also höchste Zeit, mein Leben wieder mal zu verlängern.) Ich habe also massig Zeit. Theoretisch zumindest. Aber ich mache jetzt mal Schluss, sonst fange ich doch noch an,  hier schriftlich von Namibia zu träumen. Das mache ich dann besser in natura, das heißt, im Schlaf. Gute Nacht und hoffentlich bis bald - in nicht alter, sondern neuer Frische.

Mittwoch, 8. Juni 2011

Was war?

Ich muss immer selber nachschauen: Von welchem Zeitpunkt an soll ich berichten, was die datierten Ereignisse angehen? Wie ich schon im letzten Beitrag sagte: Mich interessiert nicht, was die anderen machen, mich interessiert, was sie denken. Deshalb übergehe ich oft, was ich selbst mache, weil es an sich uninteressant ist. Und was innerhalb eines bestimmten Zeitraums war, spielt für mich keine Rolle, Daten verlieren immer mehr ihren Wert für mich, Chronologie interessiert mich nicht so sehr. Es kommt auf Erlebnisse an, wann immer die passierten.

Nichtsdestotrotz. Es ging kürzlich um das Thema „Medienauftritt“, genauer: SWR Landesschau. Was soll ich sagen: Auch wenn sich der Neuheitswert – huch, Fernsehen! Was ziehe ich bloß an und hoffentlich habe ich keinen Blackout! - mittlerweile ein wenig abgenutzt hat und es auch hinter den Kulissen einfach ganz normale Arbeit ist: Mit Fernsehleuten mache ich bisher supernette Erfahrungen, ich hab sie lieb. Auch das Team von der Landesschau SWR, das mich zu Hause besucht hat, war reizend, ich schloss sie alle im Nu in mein Herz. Ich habe auch kein Problem mit „Jetzt ordnen Sie die Rosen in der Vase nochmal“ und „Nippen Sie einmal am Glas und schauen verträumt in die Ferne“. Es macht mir mittlerweile sogar Spaß - vielleicht bin ich schon verdorben. Aber die Leute vom Fernsehen sind immer echt nett und machen auch nur ihre Arbeit, die ich nicht zu den schlechtesten oder langweiligsten zähle. Könnte mir auch vorstellen, so etwas zu machen, wenn diese Frage sich mir jemals wieder stellen würde. Was sie aus meinem Balkon rausgeholt haben – welche Perspektive, welche Weite und Vielfalt! Muss toll sein, mein Balkon!

Die Sendung war - abgesehen von meiner Performance natürlich, an dem ich jedes Mal herummäkeln MUSS, sehr nett. Das Fernsehteam einfach goldig, der Moderator Jürgen Hörig so sympathisch, dass ich – auch wenn ich kein großer Knuddler von fremden Menschen bin - ihn hätte knuddeln wollen, die Athmosphäre den Arbeitsumständen entsprechend recht entspannt, und ich danach zu Hause groggy. Aber angenehm groggy, als hätte ich was geleistet. Wenn man kein Arbeitsleben hat, ist es schon mal was, so ein Fernsehauftritt. Einen Lachanfall hatte ich auch, als ich zu Hause merkte, dass ich mit meiner alten, speckigen Perücke im Fernsehen war, die ich eigentlich längst wegschmeißen wollte und die nur aus dem Grund noch direkt neben der anderen hing, weil ich sie EVENTUELL noch zu besonders heißen und schwitzigen Sommertagen anziehen wollte, für die meine „gute“ Perücke zu schade gewesen wäre. Lachanfälle sind fast das Wertvollste im Leben, also danke, liebe Landesschau.

Das war jetzt die Abhakung dieser Geschichte, die Thema in einem der letzten datumsbezogenen Beiträge war. Was alles danach war, oder was überhaupt in den letzten Wochen oder Monaten war, kann ich nie mehr zusammenkriegen. Es war jedenfalls eine gute Zeit, so viel steht fest. Was mir davon spontan einfällt: Ich habe liebe Menschen getroffen, Freunde aus In- und Ausland. Habe ein paar schöne Grill- und Sonstfeste mitgefeiert, viel gesprochen und noch mehr zugehört. Meine Schwester Kristiina war eine Woche lang zu Besuch, das Wochenende verbrachten wir gemeinsam auf der Saarbrückener Kinderbuchmesse, wo sie als estnische Schriftstellerin zu Lesungen eingeladen war. Ich war im Theater, Oper und Kabarett (Über die Kabarettvorstellungen und über die Oper habe ich sogar eine lange Rezension geschrieben, scheute mich dann aber doch, sie reinzustellen, weil sie zu unkonventionell war und ich nicht für verrückt gehalten werden wollte.) Ich habe einen Haufen Bücher gelesen und Filme gesehen, aber über mein (verändertes?) Verhältnis dazu sollte ich vielleicht einen eigenen Beitrag schreiben. Vor drei Tagen habe ich eine Hundezüchterin besucht mit vier Wochen alten Welpen, von denen einer künftig meinen Freunden gehört. Fünf Stunden saßen wir zu viert da und freuten uns einfach. Tiere machen uns zu besseren Menschen, davon bin ich überzeugt. Da meine Mundschleimhäute momentan recht ansehnlich sind, habe ich viele Mahlzeiten zu mir nehmen können, die mich keineswegs anekelten, und mehrere, die mir einen regelrechten Genuss bereiteten. Eines Nachts oder Morgens, als ich nicht schlafen konnte, habe ich einen Sonnenaufgang erlebt, der mich tränenüberströmt wieder ins Bett gehen ließ. Ich ging bewusst schlafen, bevor der glühende Streifen mit seinem im Wortsinn überirdischen Farbenspiel ganz verschwunden war und der Tag oder zumindest die Sonne offiziell begonnen hatte. Und ich erkläre ebenso bewusst nicht, was ich dabei fühlte oder warum ich es nicht komplett auskostete.

Ich habe also nichts Besonderes zu erzählen. Was mache ich denn groß? Ich mache nichts, was irgendwie interessant wäre oder was andere nicht tun würden. Aber es ist einfach alles so schön.

Hier ein Foto von vor einer Woche, entstanden in dem Zen-Garten des Saarbrückener Hotels. Ich bin zwar todmüde nach den Messetagen, sehe aber nicht gerade sterbend aus, finde ich. Die Perücke sitzt allerdings wieder mal schief.



Aber was MACHEN Sie denn so?

Ich werde oft gefragt, was ich denn so mache oder gemacht habe, insbesondere wenn ich ein paar Wochen nichts geschrieben habe. Die Antwort lautet meistens, nein, immer: Ich habe gelebt! Da blieb keine Zeit fürs Bloggen. Dass mein Blog kein Logbuch ist mit den genauen Trajektoren meines Treibens, auch wenn das Wort Log drinsteckt, sollte klar sein. Es interessiert mich selber meistens nicht, was die anderen MACHEN. Mich interessiert, was sie DENKEN. Da ich aber ein zuvorkommender Mensch bin, habe ich nachgedacht, was ich in den letzten Wochen oder Monaten denn tatsächlich so gemacht habe. Genauer: Was habe ich gemacht, wovon ich Fotos habe? Ich habe Fotos zum Beispiel von dieser Sache hier.



Wunderschön, aber kein Vergleich zum ersten Mal, das ich in meinem Buch so beschreibe:

Seit meiner Krankheit mache ich Sachen, die ich vielleicht nie getan hätte, wenn ich mehr Lebenszeit hätte. Einmal habe ich mich trotz meiner Höhenangst zu einem Tandemflug mit dem Gleitschirm durchgerungen. Schon nach den ersten Metern in der Luft wusste ich: Wegen solcher Erlebnisse möchte ich mein Leben nicht missen. Ich heulte dabei wie ein Schlosshund, benetzte quasi mit meinen Tränen die Erde, während ich auf sie zuschwebte.“

Diesmal habe ich nicht geheult. Stattdessen habe ich höchstens mit geographischem, geologischem und städtebaulichem Interesse die Umgebung von oben betrachtet und gedacht: „Sieh mal an, in diesem Miniort hat auch einer einen Swimmingpool. Der Bürgermeister? Mal schauen, ob irgendwo noch einer einen hat. Nee, wohl nicht. Ok, die schlechte Konjunktur, oder die durchschnittliche Jahrestemperatur ist zu niedrig zum Schwimmen. Es müsste aber warm genug sein, und vom Skifahren allein können sie nicht leben, es ist ja auch ein ausgewiesenes Sommerziel: Kühe, Gras und Fachwerkhäuser. Aber den Schrotthaufen da links, wo unser Auto steht - was macht diese Jugendgang da eigentlich neben unserem Auto? -, müssten die echt mal wegmachen, der kommt nicht so gut von oben. Oh, wir landen gleich. Was hat er noch gesagt - die Füße nicht einziehen, sondern schön mitlanden.“

Ich sah meine eigenen Thesen bestätigt: Neue Erlebnisse verlängern das Leben. Wiederholung ist nicht dasselbe. Routine verkürzt das Leben.

Dies war mit einer monotonen Höhlenmenschenstimme gesprochen. Und jetzt normal: Warum ist das bloß so? Warum kann man Glück so selten erleben? Warum habe ich mir selbst alles kaputt gemacht? Sind Erwartungen der Tod eines jeden Erlebnisses? Folgendes ist keineswegs eine Antwort. Auch keine Frage, sondern höchstens eine Teilfrage auf eine Teilantwort. Ja, genau so verquer.

Es braucht wohl doch Adrenalin, ein klein wenig Angst, um starke Emotionen zu spüren. Ich bin alles andere als ein Adrenalinjunkie, und obwohl es kaum etwas Schöneres gibt als die eigene Angst zu überwinden, kann ich von Angstüberwindung nicht mein restliches Leben zusammenbasteln, das wäre mir zu wenig. Nichtsdestotrotz habe ich bei diesem Flug, von dem ich mir so viel versprach, etwas vermisst. Vielleicht mich selber.

Nun hätte ich in der Luft Seifenblasen machen können, oder lesen, oder ein paar lustige Loopings, wenn der Fluglehrer das erlaubt hätte, oder wenn ich ihn überhaupt gefragt hätte. Vermutlich hätte er dann ganz schnell landen wollen. Ich hatte ihm schon vorher gesagt: "Mir wäre lieber, wenn wir in der Luft nicht sprechen". Letztes Mal hat er nämlich immer erklärt, was für ein See oder Hügel da drüben zu sehen sei. Ich saß vor ihm, ohne dass er mein Gesicht sah. Und weinte. Ich weinte und war glücklich, und wollte keine Menschensprache hören, die diesen Hügeln oder Seen Namen gegeben hat. Ich war diese Hügel, ich war diese Seen, ich fühlte mich Gott nahe. 

Nichts war ich diesmal. Ein armseliges Menschenwürstchen war ich, das überlegte, ob der Bürgermeister wohl korrupt sei, wenn er sich als Einziger einen Swimmingpool leisten kann.

Montag, 23. Mai 2011

WARNUNG

 
Ein Blogleser hat mich unbewusst dazu gebracht, diesen Beitrag zu schreiben. Er hat mein Buch seiner Frau, die gerade mit adjuvanten Brustkrebstherapien zu kämpfen hat, in die Hand gedrückt, ohne es selbst gelesen oder wenigstens überflogen zu haben. Als ich das hörte, lief es mir kalt den Rücken runter.

Ich habe sowieso jedes Mal Bauch(und Brust)schmerzen, wenn ich sehe, dass mein Buch unter „Brustkrebs“ gelistet wird. Bei Amazon steht es unter anderem in der Kategorie Bücher > Ratgeber > Gesundheit & Medizin > Frauen > Brust & Brustkrebs. Mehr daneben kann man kaum noch liegen, denn es spielt keine große Rolle mehr, dass ich vor sieben Jahren mal Brustkrebs hatte. (Selbst wenn, hätte ich kein Interesse daran gehabt, einen Ratgeber zu fabrizieren, von denen es auf dem Büchermarkt mehr als genug gibt, zum Teil auch sehr gute und informative.) Jetzt habe ich Lebermetastasen, keine medizinische Heilungschance mehr, und meine Lebenssituation, meine Ziele, meine Psyche und meine Seele haben sich völlig verändert.

Um zu vermeiden, dass noch mehr Angehörige das Buch einfach so weiterempfehlen (das war jetzt der dritte Fall, von dem ich hörte - also allerhöchste Eisenbahn für mich), nur weil dort das Wort ‚Brustkrebs’ vorkommt oder sie irgendwo gehört haben, das Buch sei ganz toll und interessant, nur weil seine Frau mit ihren Freundinnen letztens so lebhaft darüber diskutiert hat, fühle ich mich verpflichtet, eine Warnung vor meinem eigenen Buch auszusprechen:

Schenken Sie das Buch NICHT an Menschen, die gerade frisch diagnostiziert worden sind, kurz vor einer Krebstherapie stehen oder mittendrin stecken. Schenken Sie dieses Buch am besten an überhaupt keinen, der Krebs hat oder hatte, UND dem noch alle Wege zur Heilung offen stehen, denn diese Personen haben eine völlig andere Lebenssituation als ich. Geben Sie es nur weiter, wenn Sie die betroffene Person in- und auswendig kennen, sie humoristisch veranlagt und nicht ganz unbelesen ist und Sie meinen, dass es eine originelle, spannende Geschichte ist, die ihr eh schon sehr differenziertes Weltbild ergänzen könnte. Bei geringstem Zweifel bitte ich, vom Kauf meines Buches abzusehen.

Als ich selbst vor sieben Jahren in dieser – für mich aus heutiger Sicht beneidenswerter - Situation war, hätte ich nie ein Buch lesen wollen, an dessen Ende als Quintessenz NICHT stand: „Ich habe den Krebs besiegt, jetzt ist erst mal alles gut.“ Damals ging es mir nur um Heilung und die Bestätigung, dass auch meine Geschichte bestimmt gut ausgehen wird. Alles andere war nebensächlich und Todkranke waren eine Welt, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Eine Bekannte, die in der Onkologie arbeitete, sagte mir damals: „Es ist erstaunlich, wie viele Wunder bei uns dann doch immer wieder geschehen.“ Ich wartete gebannt und gierig auf erstaunliche Erfolgsgeschichten, als sie sagte: „Wir haben da gerade einen Mann, der längst tot sein müsste, aber er liegt da seit fünf Monaten und ist sogar ansprechbar und alles“. Was sich in meinem Innern bei der „Pointe“ abspielte, weiß sie gar nicht. Und mir damals, als ich nach einem Therapiemarathon ein neues, gesundes Leben beginnen wollte, ein Buch zu empfehlen, weil darin jemand seine Todesdiagnose ganz gut meistert, hätte mich total verstört. Bitte, tun Sie es nicht, liebe Angehörige.
 
Ganz abgesehen davon: Es ist auch nichts für Menschen, die gerne Rosamunde-Pilcher-Filme schauen, weil sie sagen, die seien so spannend / gut erzählt / schön / romantisch, und das Leben sei schon schwer genug, da käme das Stück heile Welt am Abend gerade recht. (Vor allem aber, weil sie so gut erzählt seien.)

Und es ist nichts für Menschen, die der Meinung sind, dass man ernste Themen in einer ernsten Sprache behandeln muss, weil man der Sache sonst nicht gerecht würde. Mein Credo lautet: Eine leichte Verschiebung im Blickwinkel rückt die Sachen oftmals erst zurecht.


Bedenkenlos empfehlen kann ich das Buch dagegen vor allem Gesunden, die mit ihrem Leben unzufrieden sind und einen Vergleich nach unten gut gebrauchen können. Für diese kann es sehr heilsam sein, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. (Wie ein Leser seinen Freunden gesagt hat: „Wenn ihr Sorgen habt, lest dieses Buch. Danach habt ihr keine mehr.“) Dann für Todkranke, die nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, die aus ihrem Tief und den trüben Gedanken nicht rauskommen und auch keine psychoonkologische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Aber auch hier nicht für sehr instabile Menschen; für Menschen, die meinen, da ginge es um eine Wunderheilung; oder für solche, die schon in Ohnmacht fallen, wenn sie sich in den Daumen schneiden. (Ok., Letzteres können sich Todkranke eh wohl nicht leisten.)  

Keine allzu großen Bedenken habe ich, es den Angehörigen von solchen Kranken (müssen nicht nur Krebskranke sein) zu empfehlen, die keine Heilung erwarten können. Zumindest erhalten die Angehörigen einen kleinen Einblick in die Psyche und die Gedankenwelt von Menschen, die todkrank sind und altersmäßig eigentlich mitten im Leben stehen müssten. Natürlich bilden Todkranke keine homogene Bevölkerungsgruppe, die ähnlich tickt. Es ist genauso durchwachsen von Weltanschauungen und Umgangsstrategien mit dem Leben und dem Tod wie jede andere. Deshalb ist es nur EINE Möglichkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Eben meine.


Ich weiß, dass das Buch eine unheimlich starke Wirkung entfaltet, es macht etwas mit Menschen, was nicht unbedingt leicht zu lenken ist. Jedenfalls schüttelt es den Leser erst mal gründlich durch, und ich schließe nicht aus, dass besonders instabile Personen ein „Schütteltrauma“ davontragen können. Die meisten anderen kommen natürlich ohne Blessuren davon, aber ob es ihnen passt oder nicht - irgendetwas wird meistens passieren.

Kürzlich schrieb mir eine ältere Leserin: „Ihr Buch ist verhext. Es zog mich so in seinen Bann, dass ich alles um mich herum vergaß, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Ich habe mich gefürchtet, mitgefiebert, war erleichtert und glücklich und im nächsten Kapitel lag ich wieder am Boden, zusammen mit Ihnen. Ich habe geweint und gelacht wie bei keinem anderen Buch, manchmal beides gleichzeitig. Als ich das Buch zumachte, war ich ganz verschwitzt und fertig mit den Nerven, aber traurig und glücklich und einfach anders. Danach war ich noch tagelang ganz abwesend und vergesslich und immer in Gedanken bei Ihnen und Ihrem Leben. Mein Mann fragte, warum ich so komisch bin. Ich sagte: Dieses Buch lässt mich nicht mehr los. Mein Mann verstand nur Bahnhof, weil so hat er mich noch nie erlebt. Dann las er es selbst und ihm ging es genauso.

Leider weiß ich nicht, wie lange dieser irritierende Zustand bei diesem Ehepaar anhielt (es fehlen noch Langzeitstudien), aber Ähnliches höre ich immer wieder. Und nicht jeder mag einer solchen Wirkung gewachsen sein oder das überhaupt wollen. Das Buch ist nichts für schwache Nerven, und auch wenn es mit leichter Hand geschrieben ist, ist der Inhalt oftmals harter, bitterer Tobak.

Es müsste jetzt deutlich geworden sein, dass es kein Brustkrebsratgeber ist, sondern das Buch beschreibt in einer fast romanhaften Form eine konkrete auswegslose Situation innerhalb einer noch viel größeren auswegslosen Situation. Ich als Todkranke unternahm eine, wie ich dachte: letzte Reise in meinem Leben, weil ich mir noch was Schönes gönnen wollte und von meinem Lieblingsreiseland Abschied nehmen wollte, bevor ich von meinem ganzen Leben Abschied nehmen würde. Was ich bekam, waren acht Tage nicht enden wollenden Horrors, die fast mit meinem Tod geendet hätten – und dies auf eine ganz andere Weise als ich angesichts meiner Krebsdiagnose erwartet hätte. Ich musste bei dieser Reise alles, was ich glaubte, über Leben und Tod bereits gelernt zu haben, über Bord werfen oder zumindest relativieren.

Ich möchte nicht die Quintessenz des Ganzen darlegen, denn jeder zieht daraus seine eigenen Schlüsse, die er in seinem eigenen Leben und seiner eigenen Innenwelt einordnen kann oder eben nicht. Jeder nimmt aus Büchern nur das mit, was irgendwo in ihm bereits schlummert und auf Resonanz stoßen KANN. So soll es auch sein.

Aber noch mal: Bitte denken Sie gut nach, bevor Sie das Buch ungelesen einer kürzlich erkrankten Person schenken. Mehr als aufklären kann ich nicht, und das habe ich jetzt möglichst ausgiebig getan. Deshalb kann ich nun mit ruhigem Gewissen eine spannende Lektüre wünschen.

Sonntag, 15. Mai 2011

Nach der Sendung ist vor der Sendung

Mittlerweile habe ich, hoffe ich, alle unglaublich lieben und netten Zuschriften beantwortet. Falls jemand untergegangen ist, bitte beschweren. Ich bemühe mich jedenfalls tatsächlich, immer zu antworten, insbesondere wenn jemand sich richtig Zeit genommen hat und lang und persönlich schreibt, kommt es - zumindest aktuell - für mich gar nicht in Frage, überhaupt nicht zurückzuschreiben. Ganz zu schweigen von denen, die mich nicht nur irgendwo gesehen oder gehört, sondern sogar mein Buch gelesen haben. Jedenfalls vielen Dank an alle.

Ganz überraschend und vermutlich aufgrund der SWR-Leute-Sendung bin ich prompt in noch einer Sendung des SWR zu sehen - 15.05, also morgen, in der Landesschau mit Jürgen Hörig. Ich soll ca. 19.30 Uhr drankommen.

Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht. Nein, ich meine nicht nur meine erste Radioerfahrung, sondern: Entweder liegt es an meinem DVD-Recorder, oder ist es der Zahn der Zeit (im Zusammenspiel mit der Krankheit), der an mir bzw. auch an meinem Äußeren nagt. Jedenfalls war ich, wenn nicht gleich erschrocken, so doch verblüfft, als ich die TV-Aufnahme der "Leute"-Sendung von mir sah. Und das nicht nur, weil ich selbstverständlich auf die besten Antworten erst nach der Sendung kam und wie immer die Gedanken schneller waren als die Artikulation, so dass hie und da ein Stück meines Gedankengangs fehlt. Aber ich zermürbe mich mit so etwas nicht (mehr), zumal die Zuhörer es nicht so empfanden, und das war auch nicht der Grund, warum ich erschrocken war. Sondern wie alt, faltig und fremd ich aussah. Ich war vor jener Sendung einverstanden, als die Maskenbildnerin meinte: "Wir machen ein ganz natürliches und leichtes Make-up", und genau das hat sie wohl auch wunderbar hingekriegt. Aber am Montag lasse ich mich in der Maske jedenfalls ordentlich zukleistern.

Das ist wohl einer der Nebeneffekte, wenn man unerwartet so lange lebt wie ich: Man wird älter. Aber man hat einen so radikalen Schnitt im Leben erfahren, dass man sich manchmal dabei ertappt, sich zu wundern, dass man altert wie alle anderen auch. Als wäre man Dorian Gray, nur weil man plötzlich todkrank ist. Ich bin ja schon fünfeinhalb Jahre todkrank, also auch älter als damals. Und die Chemo macht nicht gerade schöner - was wundere ich mich also. Das ist mir ja alles auch gar nicht so wichtig, aber interessant finde ich es schon.

Diese Woche war überhaupt die Woche der Überraschungen für mich, im Sinne von „So leben gesunde Menschen“. Die haben mit Sachen zu tun, die ich nie mehr zu erleben erwartete, und nicht alles davon ist das, was Gesunde mit Glück erfüllt. Da ich mich immer über neue Erfahrungen freue (müssen nicht immer schöne sein), freute ich mich diese Woche unter anderem über:

1.      Meinen ersten Punkt in Flensburg wegen zu schnellen Fahrens. Ich war einfach übermütig ob der Sonne und der Schönheit des Lebens, hörte laut Musik, so dass ich das Ächzen meines Twingo-Motors nicht hörte, und außerdem kenne ich persönlich niemanden, der auf dieser schönen geraden Landstrecke tatsächlich 70 fährt. Dabei bin ich alles andere als ein Raser, und leider eierte an dem Tag auch überhaupt keiner mit 60 vor meiner Nase herum wie sonst immer. Und - prompt wurde ich rechts ran gewunken aus meinen herrlich unbeschwerten Gedanken. Ich habe überhaupt zum ersten Mal einem Polizisten meinen Führerschein zeigen müssen und einen Polizei-Kastenwagen von innen gesehen, also alles lauter Nova für mich (das Plural von 'Novum' habe ich ehrlich gesagt selber auch gerade nachschlagen müssen).

2.      Dass ich noch erleben darf, wie mein Pass (genau wie ich) seit dem Ausstellungsdatum fast zehn Jahre auf dem Buckel hat und deshalb einfach abläuft. Da dieser gleichzeitig auch mein Reisepass ist und man bei Fernreisen meistens mindestens sechs Monate Gültigkeit vorweisen muss, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als ihn bald zu erneuern. Was nicht einfach ist, weil ich immer noch estnische Staatsbürgerin bin und dafür ordentlich Action machen muss. Mache ich aber gern.

3.      Dass ich für mein altes Autochen noch einmal TÜV machen muss. Vermutlich kriege ich ihn nicht, also habe ich ein Problem. Ein schönes eigentlich, denn damals schien es mir unwahrscheinlich, noch einmal zwei Jahre bis zum neuen TÜV-Termin zu erleben.

4.      Und es gab noch ein-zwei völlig prophane, für mich aber überraschende Sachen oder Entdeckungen, die mir allerdings gerade nicht einfallen. Mit dem Alter lässt ja das Gedächtnis nach. Finde ich okay und gerecht.