Montag, 27. Dezember 2010

Hass

Als ich als junge Studentin kellnerte, gab es in dem Restaurant einen Stammgast, dessen Tochter bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie war nur fünf-sechs Jahre älter als ich gewesen, also Ende Zwanzig. Einmal sagte mir eine Kollegin, dass sie beobachtet hätte, wie dieser Mann mich hasserfüllt anstarrte, sie hätte dabei seine Gedanken gelesen: "Warum darf sie leben und meine Tochter nicht? Wäre bloß anstelle meines Kindes sie gestorben." Ich sah der Tochter, die ich allerdings noch nie gesehen hatte, angeblich etwas ähnlich. Ich hatte allen Mitleid mit diesem Mann gehabt, auch danach noch, aber irgendwie verstörte es mich doch so, dass ich ihn fortan nur noch mit leichter Beklemmung bediente und versuchte, dabei nicht allzu sehr vom Leben zu strotzen.

Viele Jahre später passierte etwas Ähnliches, allerdings bekam ich das auch selber mit. Ich kam zur Blutabnahme, und da ich danach was vorhatte, hatte ich mich zurecht gemacht, trug auch meine Perücke. Aus dem Arztzimmer kam eine sehr alte Frau im Rollstuhl raus, bestimmt stark über 80, wenn nicht über 90, geschoben von ihrem ebenso alten Mann. Sie trug ebenfalls eine Perücke, das war nicht schwer erkennbar. Während sie an mir vorbeirollte, starrten die großen, ehemals vermutlich blauen Augen in ihrem eingefallenen gelblichen Gesicht mich unentwegt an. Ich war zu dem Zeitpunkt der einzige Mensch auf dem weiten Flur. Ich spürte förmlich, wie sie mich verfluchte, weil sie mich für jung (noch unter 40) und gesund hielt. Und vermutlich die ganze Welt, die ich für sie wahrscheinlich in diesem Moment repräsentierte. Ihr Mund, der eh nur ein Strich war, verkrümmte sich zu einem hässlichen, verächtlichen Bogen. Dass ihr Gesicht plötzlich noch so viel Elastizität entwickeln würde, hat mich überrascht. Ich wusste nicht, was daran verachtenswert sein sollte, am Leben zu sein. Sie war doch noch selbst am Leben. Aber es war ein körperlich spürbarer Hass auf mich. Wie in einem Horrorfilm spürte ich für einen Moment einen kalten Hauch um meine Ohren und glaubte, wahrzunehmen, wie der Saum meiner Bluse in der Luft wehte.

Natürlich konnte sie nicht wissen, dass ich womöglich noch vor ihr sterben würde. Ich war trotzdem unendlich traurig und konnte gar nicht genau sagen, warum. Vermutlich fühlte ich mich nur ungerecht behandelt. Ich weiß es nicht. Hoffentlich werde ich nie so wie sie. Die Chancen stehen zum Glück gut.

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