Montag, 26. September 2011

Warum neue Liste?

So wie es aussieht, wäre das richtige Anknüpfungsthema jetzt die Talkshow „Unter uns“ in Weimar, wo ich allerdings, wie es mir erscheint, irgendwann im letzten Sommer war, so ewig weit weg ist es für mich. Aber was soll’s, ich erzähl’ dann mal.

Also, ich war in Weimar bei der Talkshow „Unter uns“, irgendwann letzten Sommer. Soweit ich mich angesichts der verstrichenen Zeit erinnere, war es wieder mal eine schöne Erfahrung, die Menschen vor und hinter den Kulissen äußerst angenehm, das Klima nicht nur freundlich, sondern geradezu familiär, ich fühlte mich von vornherein so gut aufgehoben, dass ich wider jegliches Erwarten mich kurz vor der Sendung mit gefüllten Eiern und Honigmelone vollstopfte (ja, ich weiß, eine unter Umständen etwas merkwürdige Kombination, zumal ich in den Wochen davor als Folge der OP kaum Appetit hatte) und meinen Auftritt danach trotzdem quasi mit links über die Bühne brachte. So hat es angeblich zumindest ausgesehen. (Bei diesen sympathischen Moderatoren war es tatsächlich keine so hohe Kunst. Zumal ich immer den alten Rat beherzige, dem, mit dem man gerade spricht, in die Augen zu schauen, als würde das Gespräch in meinem Wohnzimmer stattfinden. Klingt zu einfach, wenn man es aber ganz treuherzig befolgt, kann es klappen.) Der einzige heikle Punkt war, dass einer der Kameramänner oft so dicht hinter mir stand, dass ich stets befürchtete, dass er mir bei einem Schwenk die Perücke vom Kopf fegen würde. Tat er dann doch nicht.

Je aufwändiger ein Auftritt – Hinfahren, Dasein, Erzählen, Heimfahren -, desto bereichernder für mich. Wie sehr ich wiederum andere bereichert habe, weiß ich nicht, aber die Briefe daraufhin waren wieder sehr, sehr nett. Zumindest die längeren und persönlicheren habe ich wie immer auch alle beantwortet. Jedenfalls war diese Sendung alles in allem eine schöne Sache.

Am nächsten Tag war all das nichtig. Da wir neben der Städtebesichtigung (Weimar und Erfurt) noch etwas „Kulturelles“ machen wollten, fuhren wir zu der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Ich hatte es schon vor 30 Jahren einmal gesehen, Steffen wollte diese Bildungslücke noch schließen, und obwohl ich es gar nicht unbedingt vorhatte, machte auch ich die komplette Runde, setzte mich einer zyklischen Erinnerung aus. Wäre ich in Estland geblieben, wüsste ich vermutlich nur einen Bruchteil davon, was jedem, der in Deutschland nicht gerade mit Tomaten auf den Augen durch das Leben stolpert, hier unweigerlich immer wieder in Wort und Bild begegnet. So glaubte ich, diesbezüglich weitgehend vorbereitet zu sein. Und doch traf mich dieser Ort mit einer Wucht, die ich nicht erwartet hätte.

Ich war davon ausgegangen, dass es einfach wie mit einem Buch sein würde, die man nach zig Jahren mit einem neuen Blick und Erfahrungsstand liest. Nun stellte ich aber fest, dass wichtige Passagen in Milchschrift verfasst worden waren. (Jeder, der als Kind Spionageromane gelesen hat, weiß, dass man Milchschrift mit heißem Bügeleisen lesbar machen kann. Und mein Bügeleisen war meine Nase an der Vitrine, die nicht Zitate und Auszüge enthielt, sondern Originaldokumente, mit all ihren Unzulänglichkeiten und Tippfehlern. Obwohl das Glas dazwischen war, schien das fast Haptische von entscheidender Bedeutung zu sein. Man könnte darüber wieder leicht ins Sinnieren über das digitale Zeitalter kommen, wenn man möchte. Ich möchte, tue es aber nicht.) Wenn damals das Gegenständliche mein kindliches Interesse einfing – die Schuhe, die groben Jacken, deren Muff man noch durchs Glas zu riechen glaubte, auch wenn sie sicher längst behutsam chemisch gereinigt worden waren, die armseligen selbstgebastelten Kämme und Rasierpinsel -, verbrachte ich diesmal also die meiste Zeit damit, Dokumente in Maschinenschrift zu lesen, die ich damals keines Blickes gewürdigt hatte. Wieder stellte ich fest, dass ich mittlerweile bevorzugt entweder sehr groß oder sehr klein denke. Das Große schwang selbstverständlich sowieso mit, aber das Kleine erschütterte mich ungleich mehr - die Wortwahl der Lageroberen, diese gutgelaunte Arroganz des Chefs eines „gutgehenden Geschäfts“. (Auch wenn dieser in der nächsten Vitrine schon selbst tot war, hingerichtet.) Die Parallelwelt in der Sozialstruktur wie im Schriftwechsel – hier die armseligen Mitteilungen der Gefangenen, dort die Beschwerden der Lageroberen, dass die eigenen Leute zu fett seien und entweder mehr körperliche Übungen machen oder „den Maulkorb höher hängen“ sollen. Und bitte nur noch die edelsten Lokale aufsuchen statt in solchen SS-Angehöriger unwürdigen Spelunken zu verkehren (Liste anbei), und die Ehefrauen sollten doch bitte zahlreicher an den gemeinsamen Vergnügungen teilnehmen. (Ist doch klar, eine bunte Reihe ist immer netter, wem würde das nicht einleuchten?) Nebenbei erfuhr ich, dass der Gefangene X zwar generell ein „rechter Lausbub“ sei, sich diesmal aber einen wirklich „fetten Brocken geleistet“ habe. Wie leicht und heiter das alles, ganz wie auf dem Foto „Papa macht Witzchen“.

Immer wieder blitzten (im wörtlichen Sinne) in den Schreiben die zwei zusammengepferchten Buchstaben SS auf – zwei Blitze. Ich stelle mir vor, wie die Schreibmaschinen umgestellt werden mussten, wie zahlreiche Briefe hin- und her geschickt wurden mit dem Befehl, ab sofort und für die nächsten tausend Jahre die Produktion dahingehend umzustellen, dass nur noch mit diesem Symbol ausgestattete Schreibmaschinen für den Dienstgebrauch ausgeliefert werden durften. Wie lächerlich die Entstehungsgeschichte mancher Symbole, wie spielerisch ihr Ursprung, auch wenn dieses spezielle Corporate Design in rein kreativer Hinsicht auf recht dünnen Beinchen daherkommt ("Ja, schon verstanden, das S muss ganz eckig und entschlossen wirken, ein zackiges, zorniges S sieht aus wie ein Blitz, und Blitz fanden wir ja schon immer gut - "Blitzkrieg", "Blitzsieg" -,nun können wir sogar zwei Fliegen mit einer Klappe... äh, Taste schlagen, wo nehmen Sie bloß immer diese Ideen her?") Und wie gefährlich ihre Macht, hat man die banalen Umstände ihrer flächendeckenden Einführung erst mal vergessen.

Die Symbole, die (Schrift)Zeichen, das Kleine, das mich erschütterte, konnte diesmal aber nicht klein genug sein. Das, was in Erinnerung bleibt, ist meist sowieso schwer beeinflussbar, in diesem Fall muss ich immer noch und immer wieder an eine bestimmte Namensliste denken, von denen es dort an sich nicht gerade wenige gab.

Das erste Drittel der Namen in dieser Liste war entweder mit Punkten oder Häkchen versehen, um den Rest darunter hatte jemand mit roter Tinte eine lange Eckklammer gesetzt und in flotter roter Schrift längs hinzu geschrieben: „Neue Liste“. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf. Warum neue Liste? War es gut, da drauf zu kommen? Waren etwa die Ofenkapazitäten gerade ausgeschöpft? Bedeutete das Aufschub, und wenn ja, wie lange? Einen Tag, eine Woche, oder kam jemand von der neuen Liste gar davon?

Und warum waren oben neben manchen Namen Punkte, bei anderen aber Häkchen? Mit Bleistift gesetzt, nicht mit Tinte, also noch korrigierfähig? Hieß Häkchen: „So, jetzt reicht's mir, der kommt nun endgültig weg, hat mir schon lange genug Kopfschmerzen bereitet mit seiner Frechheit“. Oder hieß es schlicht: „Ist mittlerweile schon von allein verstorben“? (Warum bin ich mir überhaupt sicher, dass Häkchen Tod bedeutete und Punkt irgendwie besser war?) Warum waren manche Punkte größer als andere, gerade so, als wäre der Schreiber mit seinem Bleistift bei Betrachtung des Namens in Gedanken versunken, hätte gezögert und immer länger herumgekritzelt, bis der Punkt fast ein Ball wurde. Hieß es: „Hm, soll der jetzt wirklich weg mit dieser „Lieferung“ oder lassen wir den noch ‚ne Weile hier…“

Oder war es alles ganz anders und gerade ein Ball-Punkt zeugte von Selbstzufriedenheit beim Auslöschen eines bestimmten Lebens, während ein unentschlossener, unscheinbarer kleiner Punkt eine Rettungsoption darstellte? (Und warum glaube ich immer noch, dass Häkchen am schlechtesten war?) Es waren jedenfalls zwei Leute am Werke: einer mit Bleistift, der andere mit roter Tinte. Wer entschied, und was entschied derjenige? Bleistift gegen Tinte, aber wer sagt, dass die eigentliche Entscheidung der Tintenmensch traf? Das wäre womöglich zu kurz gedacht. Vielleicht musste einfach eine neue Liste her, weil der untere Teil nicht in alphabetischer Reihenfolge war, und das mit der flotten Tintenschrift war die Sekretärin, die es gerade entdeckte. Ja, vielleicht steckte da gar nicht mehr dahinter. Oder doch ein ganzes Leben, gar mehrere vielleicht? Ja, was war bloß mit dieser "Neuen Liste"?

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