Sonntag, 3. April 2011

Weltreise auf der Wand



Wer mein Buch gelesen hat, weiß vielleicht noch, wo mein Fernweh seinen Anfang nahm. Anbei die "Beweisfotos" und die entsprechende Stelle im Buch. Zur Erinnerung: Wir lebten hinter dem Eisernen Vorhang in Estland. Diese Weltkarte begleitete mich meine ganze Kindheit hindurch.

Ich bin die mit dem Pferdeschwanz, links ist meine Schwester Kristiina.

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Als ich fünf Jahre alt war, hängte unser Vater im gemeinsamen Kinderzimmer von mir und meiner Schwester Kristiina eine riesige bunte Weltkarte auf. Von nun an war eines unserer Lieblingsspiele: „Die Weltreise an der Wand.“ Wir wussten nichts von der Welt, wollten sie aber beide kennenlernen.
Damals hatten wir unsere eigenen Kinderkriterien für schöne Länder: nette Farbe, interessanter Name oder lustige Form. Italien war deshalb natürlich ziemlich begehrt – hier lief auch unsere Fantasie regelrecht in Siebenmeilenstiefeln herum. Argentinien – das ich allerdings bis heute nicht besucht habe – nahm meist diejenige, die durchs Losglück mit der Weltreise anfangen durfte. Wir reisten nämlich abwechselnd und kein Land durfte zweimal genommen werden. Argentinien war auf der Karte nicht nur rosa eingefärbt, sondern der Name klang so wunderbar, wie der einer Blume oder eines Tanzes. Dort mussten wohl Feen leben. Venezuela – das ich ebenfalls bis heute nie besucht habe – war zwar langweilig beige, aber dieses Wort konnte man schwärmerisch in die Länge ziehen, während man einen triumphierenden Blick zu der anderen hinüberwarf. Wer dort wohnte, wussten wir nicht, aber wir dachten uns auch zu diesem Land unsere eigenen Geschichten aus. Fiel uns nichts Neues ein, lebte dort einfach ein trauriges, aber sehr schönes und kluges Waisenkind, das sein Glück suchte und natürlich auch fand. Was ein solches Glück wäre, davon hatten wir keine rechte Vorstellung, aber immer ging in den Märchen jemand in die große weite Welt hinaus und suchte es.
Leider endete das Spiel oft im Streit, denn es war zu nervenaufreibend, um die Länder der Welt zu kämpfen, während wir zusammengepfercht in einem Sessel saßen, der nachts zu meinem Bett ausgeklappt wurde.

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Jede einzelne Reise ist wie ein ganzes kleines Leben: Man macht sich auf den Weg, kommt – idealerweise – auch an, schaut sich um, staunt, freut und ärgert sich auch mal oder ist gar verzweifelt, wenn gerade alles schief läuft. Aber am Ende hat man den Ort und seine Menschen ins Herz geschlossen. Und selbst wenn nicht, dann nimmt man sie trotzdem mit nach Hause. Auf diese Weise verlängert Reisen mein Leben, denn je mehr man erlebt, desto mehr lebt man auch.
Seit ich weiß, dass es keine Heilung geben wird, außer es geschieht ein Wunder, habe ich von der Welt mehr gesehen als die Bewohner einer mittelgroßen Stadt im 19. Jahrhundert zusammen, inklusive Bürgermeister. Wie kann man da denn nicht dankbar sein!

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