Dienstag, 8. Februar 2011

Mein erstes Morphium (Vorsicht - ellenlanger und schlechter Beitrag)

Einmal habe ich fünf Tage lang mit unerträglichen Bauchschmerzen im Bett vor mich hingelitten, bis ich, geschickterweise am Wochenende, zu der schlauen Einsicht kam, dass ich vielleicht doch zum Arzt sollte. Nicht weil ich was Ernstes hätte haben können (ganz blöd bin ich ja auch nicht: Bevor ich krepiere, kontaktiere ich schon den Arzt). Nein, ich hatte gleich das Gefühl, dass es nichts Konkretes ist, weil nicht wirklich lokalisierbar, sondern eventuell sogar psychosomatisch, sprich: eingebildet. Meine Lebermetastasen waren dank Herceptin erst mal verschwunden, außerdem machen die, zumal am Anfang, nicht solche Schmerzen. (Leider bekam ich dieses Mittel nicht schon zwei Jahre früher, obwohl die Studienergebnisse dafür sprachen, dass es Metastasen verhindern kann. Eine adjuvante Behandlung mit Herceptin haben erst Gerichtsprozesse von tapferen Brustkrebspatienten durchgesetzt. Für mich kam die Entscheidung zu spät, obwohl ich von Anfang an dafür prädestiniert gewesen wäre.)
Nur ist auch der psychosomatische Schmerz selber immer real, nur seine Ursachen nicht, und dieser Schmerz ließ sich nicht mit meinen Schmerzmitteln bekämpfen, er hat sich verselbständigt und ich bin in der Schmerzschleife hängengeblieben. Deshalb war mein einziges Ziel nach fünf Tagen vergeblicher Selbstmedikation, stärkere Schmerzmittel zu kriegen. Das habe ich in der Notfallklinik, in die Steffen mich wegen des Wochenendes fahren musste, auch gesagt, aber die Prüfprozeduren ließen sie sich natürlich nicht nehmen, vom Röntgen bis zum Gynäkologen ("Ja, ja, ich habe Verständnis"), und als tatsächlich nichts Konkretes festgestellt wurde, ich aber immerhin schon Krebspatientin, also ernst zu nehmen und kein Junkie war, haben sie sich quälend langsam hochgearbeitet bis zum Morphium, das mir zwar endlich die Schmerzen nahm, aber leider auch meinen Verstand für eine Weile.
Es ist zwar anfangs nicht so leicht zu dosieren, dieses Morphium, besonders die Morphiumpflaster, die sie dummerweise statt Tabletten, oder noch besser, Infusion verwendet haben, aber angeblich kann man mit Morphium sogar recht normal, auch geistig normal, leben, zum Beispiel mit Krebs im Endstadium. (Bin dann mal gespannt.)
Was ich aber wirklich gelernt habe bei diesem Krankenhausaufenthalt, ist: Ehrlichkeit nützt manchmal gar nichts. In diesem Fall wollte ich den Ärzten und mir nämlich einfach was ersparen, denn meine Intuition war so stark, dass es nichts Organisches ist, und man weiß ja: Ärzte und Patienten haben Schwierigkeiten mit der Diagnose „Sie haben nix“, wie wenn das eine Beleidigung wäre. Deshalb hatte ich gleich signalisiert: für mich ist es keine Beleidigung, sondern sogar am wahrscheinlichsten, ich will nur den Schmerz bekämpfen, und das jetzt bitte schnell, bin so erschöpft davon.
(Am Rande: Steffen wurde beim Lesen dieser Krankenhausgeschichte richtig wütend, als ihm einfiel, was da alles noch nebenbei lief, was ich gar nicht mehr weiß, auf jeden Fall viele Fehler und Unprofessionalität auf meine Kosten oder sonstige unglücklichen Zufälle.
Zum Beispiel dass ich erst mal drei Stunden lang aschfahl und mehr tot als lebendig neben der Rezeption im Gang gelegen habe, bis jemand sich meiner annahm, und wie der Schmerztherapeut am Wochenende nicht da war, und der Anästhesist irgendwie auch erst mal nicht, und irgendein Bericht oder irgendwelche Bilder fehlten, die Steffen noch ganz schnell besorgen musste, denn sonst könnte es nicht wirklich weitergehen, und die dann erst mal zwei Tage in irgendeinem Büro herumlagen, wie sich später rausstellte. Et cetera, et cetera.
Und dass das stufenweise Hocharbeiten und sonstige Verzögerungen so viel Zeit gekostet haben, dass ich, die ich am Samstag eingeliefert wurde aus dem einzigen Grund, jetzt endlich schnelle Hilfe zu kriegen und die ich praktisch Sekunden zählte, bis die Hilfe eintritt - dass dieses Häufchen Elend, also ich, am Dienstag zum ersten Mal schmerzfrei anzutreffen war. Dann allerdings nicht wirklich als Mensch, sondern als ein unansprechbares Etwas, das kaum die Augenlider aufhalten konnte, die nichts Gescheites von sich gab und immer eine Nierenschale zum spontanen Reinkotzen auf der Brust positioniert haben musste.
Als ich einmal trotz allem "unterwegs" war, d.h. in meinem Dämmerzustand einer Alzheimerpatientin gleich den Gang entlangschlich, ohne zu wissen, wohin ich gehe, sah ich plötzlich schemenhaft einen Schalter vor mir und kniete mich davor nieder. Mir war nämlich wieder schlecht und ich wollte nach einer Nierenschale fragen, weil ich meine im Zimmer gelassen hatte, aber nach einem kurzen Seitenblick durch das Glas beachtete mich niemand weiter. Die Krankenschwestern unterhielten sich über was auch immer, während ich versuchte, die Worte zu formen. Es gelang mir nicht. Erst als ich eindeutige Würgegeräusche von mir gab, rannte eine Krankenschwester aus dem Kabuff raus und legte mir hastig eine Schale hin. Ich hoffe nur, dass ich das Ganze nicht hätte aufwischen müssen, falls sie nicht schnell genug gewesen wäre. Ich hätte aus Koordinations- oder Wahrnehmungsmangel wahrscheinlich die Wände abgewischt statt den Boden.
Dieses Erlebnis hatte ich allerdings erst, als es mir schon besser ging. Bis dahin waren die Tage Samstag bis Dienstag erst mal immer gleich abgelaufen: Zwischen den Infusionen steckte jemand den Kopf durch die Tür, sah mich weinen oder apathisch daliegen, schaute mich fragend an, ich schüttelte müde den Kopf, die Tür ging zu. Nach einigen Stunden same procedure: Abhängen, neue Infusion aufhängen, Tür zu.
Am vierten Tag war der Schmerz, wie gesagt, endlich weg. Aber ich war, wie ebenfalls gesagt, auch weg. Das mit "unansprechbarer Junkie" hat sich zwar irgendwann etwas gebessert, aber es hat mir nie eingeleuchtet, warum mir tagelang alles schön langsam per Infusion eingeflößt wurde. (Ich vermute sogar, dass sie erst mal mit Placebo losgelegt haben, hätte natürlich ja eventuell wirken können, wäre ich auch dankbar gewesen, der Zweck heiligt die Mittel.) Und anschließend jedes Mal Stunden vergingen, bis eine neue Lösung ausprobiert wurde.
Aber dass mir nach dieser Rumspielerei dann das Morphin nicht ebenfalls ganz vorsichtig und langsam ins Blut getröpfelt wurde, sondern mir plötzlich ein schönes ultrastarkes Morphiumpflaster zwischen die Schulterblätter gepappt wurde - das habe ich bis heute nicht verstanden. Hätte noch gefehlt: ein Rückenklaps und „So, Mädle, ab nach Hause mit dir“, oder „Husch-husch ins Körble“, wenn ich hätte dableiben dürfen. Durfte ich ja, musste ich natürlich auch. Ich habe erst später von meinem Hausarzt gehört, dass das Pflaster erst dann eingesetzt wird, wenn die nötige Dosierung genau feststeht. Solche Pflaster werden beispielsweise statt Schmerzpumpe verwendet, die auch mit dem Körper fest verbunden wird und das Morphium quasi auf Befehl des Patienten in bestimmten Dosen reinpumpt.
Ach ja, das Endspiel kam noch zu Hause. Ich sollte zwar am nächsten Tag nach der Entlassung sowieso zum Hausarzt, aber an dem Abend zu Hause hatte ich so die Nase voll von diesem Dämmerzustand, dass ich das Morphinpflaster von Steffen abreißen ließ (hab's ihm befohlen, kam ja selber nicht dran – wie ein Hund mit Halskrause). Und keiner hat mich vor dem Entzug gewarnt, ich war naiv und dachte nicht, dass die Abhängigkeit so schnell, nach wenigen Tagen schon, entstehen kann. Man hätte das Morphium langsam ausklingen lassen müssen, aber für dieser Information würdig hatte mich niemand gehalten. Ich hatte zwar wahrscheinlich nur einen kleinen Entzug, aber der hatte es auch schon in sich. Ich konnte am Abend und in der Nacht weder sitzen noch liegen, weder stehen noch laufen, und machte doch alles gleichzeitig, ein echter Junkie. Am nächsten Tag war alles vorbei, und ich weiß immer noch nicht, was ein richtiger Entzug wäre, wenn die Dosis stärker oder länger anhaltend gewesen wäre. Ich will es auch gar nicht wissen.

P.S. Inzwischen bin ich gut Freund mit dem Morphium, habe es phasenweise gegessen wie Brot, als ich zweimal besonders schlimme Operationsschmerzen hatte. Entzugserscheinungen bemerke ich gar nicht, wenn ich es schön ausklingen lasse und nicht prompt absetze wie damals. Zum Glück habe ich es seit Monaten nicht mehr gebraucht. Ich werde es irgendwann aber wieder brauchen, und habe keine Angst mehr davor. Muss nur darauf achten, auch genug zu nehmen, und Retard ist in bestimmten Fällen besser, weil ich einmal erlebte, dass selbst Morphium nicht half. Das machte mir Angst, weil ich mich darauf verlassen hatte, dass es im schlimmsten Fall immer noch Morphium gibt. Aber ich hatte es zu absoluten Schmerzspitzen genommen. Das war zu spät, der Schmerz verselbständigte sich schon wieder. Nun weiß ich besser damit umzugehen. Hoffentlich auch an meinem Lebensende.


1 Kommentar:

  1. Ist echt übel, wie wenig sich viele Krankenhaus-Ärzte mit Schmerzmitteln auskennen. Die verordnen sogar Kombinationen, wo das eine bereits den Rezeptor dicht gemacht hat und es nichts mehr bringt, außer den Stoffwechsel zu belasten. Und Schmerzpflaster werden immer wieder zu hoch dosiert. Dann wundern sich alle, warum den Betroffenen plötzlich schwindlig ist und schlecht oder sie eine ganz verwaschene Sprache haben oder ihre Angehörigen nicht mehr erkennen.

    AntwortenLöschen